Max Nettlau: Buchbesprechung

Georg Steklow: Michael Bakunin. Ein Lebensbild

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title: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung - Nr. 04 author: Carl Grünberg (Hg.) year: 1914 pages: 491-492

Georg Steklow, Michael Bakunin. Ein Lebensbild („Kleine Bibliothek“ 30). Stuttgart, Dietz 1913. 128 S. Portr. (geb. 1 Mk.).

Dieses Buch erschließt keine neue Quelle; es beruht auf einer ausgiebigen Verwertung des in guten Schriften über Bakunin vorliegenden Materials. Im wesentlichen sind dies, neben einigen Werken BAKUNINs und dessen Briefwechsel, von älteren: HERZEN, RUGE, HERWEGH, von neueren: KORNILOV, RALLI und als eine Hauptquelle JAMES GUILLAUME. Wenn der propagandistische Charakter des Buchs den Verf., der gelegentlich geringere Quellen zitiert, vielleicht abhielt, seine Quellen auf Schritt und Tritt zu nennen, so hätten wohl für ein in diesem Maße fremder Arbeit verdanktes Buch nicht „alle Rechte vorbehalten“ werden sollen. Die Quellen sind mit einer gewissen Sorgfalt benutzt und das Erzählte ist oft gut ausgewählt. Doch darf man nicht erwarten, alles Wesentliche auch wirklich erwähnt zu finden, und manchmal zeigen gewisse Irrtümer eine im Grunde nicht tiefgehende Sachkenntnis. So werden z.B. S. 61 im Kreis „in Neapel um Bakunin“ (also 1865—1867) MALATESTA, COSTA, NABRUZZI genannt, deren erste Beziehungen mit BAKUNIN doch in die Jahre 1871 und 1872 fallen. Ebenso ist der Berner Kongreß (S. 62), ein noch bekannterer Gegenstand, unrichtig dargestellt.

Betreffs „Schelling und die Offenbarung“ (S. 23—24) wird die neuere Literatur dieses kleinen Problems ignoriert.

Der Verf. befindet sich in einer eigentümlichen Lage. Er benutzt korrekter Weise das beste vorhandene Material und findet darin vielfach den Nachweis der unloyalen Art der Bekämpfung Bakunins speziell durch Marx. Er ist ehrlich genug, diese Tatsachen nicht zu unterdrücken, sucht aber als Sozialdemokrat für Marx zu retten, was zu retten ist, wodurch seine sonst frische Darstellung in solchen Fällen einen gewundenen, apologetischen Charakter erhält. Anläufe zu einer Kritik sind vorhanden. So wird einer der Marxschen Gewährsmänner für russische Verläumdungen, N. Utin, auf den so vieles in der Alliance-Broschüre (1873) zurückgeht, als „Subjekt“ bezeichnet (S. 74). Aber z. B. in der Ljubavin-Affaire versagt doch seine Kritik so ziemlich, außer man gibt den Marx betreffenden Worten: „der jetzt annehmen konnte“ (S. 110) eine tiefe Bedeutung. Die „historische Gerechtigkeit“ gegen Bakunin, welche der Verf. (S. 127f.) von der russischen und deutschen Sozialdemokratie verlangt, wird ganz anders aussehen müssen, als dieses Buch und sich mit etwas mehr moralischem Mut versehen müssen.

Es freut mich nun aber auch anzuerkennen, daß in den nicht kontroversialen Teilen Bakunins Leben, wenn auch etwas ungenau und unvollständig, doch lebendig und mit einer gewissen Sympathie geschildert ist. Für deutsche Leser ist das erste Kapitel (Jugend) neu, da es das riesige von A. KORNILOV in der Artikelserie: „Die Familie der Bakunin“ (i. d. „Russkaja Mysl“ seit Mai 1909) vorgeführte Material exzerpiert. Manchmal zeigt der Verf. wirklich menschliches Verständnis für Bakunin, so in seiner Auffassung der Vorgänge des Sommer 1874 (S. 130—123). Für unzulänglich halte ich die Darstellung von Bakunins sozialen Ideen, bei welcher die Sucht, dieselben marxistisch zu widerlegen, den Verf. zu einer den Leser objektiv informierenden Wiedergabe dieser Ideen gar nicht kommen läßt.

Druck und Übersetzung sind nahezu korrekt; falsch sind Rally, Frischia, Rezzo, „in Baronata“ (S. 120). Gräßlich wirkt das oft gebrauchte Wort „Putschismus“, sogar „anarcho-putschistisch“ (S. 70)!

Einem Leser, der nur an die in einer gewissen Literatur übliche Herabsetzung Bakunins gewöhnt ist, wird also St.s Schriftchen viel Neues bringen; für die Geschichtsschreibung, der es ja auch nicht dienen sollte, ist es ohne wesentliche Bedeutung. Möge es einer Übersetzung von KORNILOVs „Jungem Bakunin“ die Wege bahnen, wenn ich einen Wunsch der Bakuninforschung aussprechen darf.

London. Max NETTLAU.