Michael Bakunin. Ein Lebensbild

Michael Bakunin

Ein Lebensbild

Von Georg Steklow

Kleine Bibliothek Nr. 30

Stuttgart

Verlag von J.H.W. Dietz Nachf. G.m.b.H.

1913

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.

Druck von J.H.W. Dietz Nachf. G.m.b.H. in Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

  1. Erstes Kapitel.
    Bakunins Jugend.
  2. Zweites Kapitel.
    Bakunin im Ausland.
  3. Drittes Kapitel.
    Bakunin im Jahre 1848.
  4. Viertes Kapitel.
    Bakunin im Gefängnis und in der Verbannung.
  5. Fünftes Kapitel.
    Die Jahre der Unruhe. Das Leben in London. Die die Anarchie vorbereitende Periode. Die Anteilnahme am polnischen Aufstand.
  6. Sechstes Kapitel.
    Die Tätigkeit Bakunins in Italien. Der Anarchismus. Seine Teilnahme an der Liga des Friedens und der Freiheit. Die Gründung der „Alliance“.
  7. Siebentes Kapitel.
    Bakunin in der Internationale.
  8. Achtes Kapitel.
    Bakunins soziale Anschauungen.
  9. Neuntes Kapitel.
    Bakunin und die russischen Angelegenheiten. Netschajew.
  10. Zehntes Kapitel.
    Bakunin während des Deutsch-Französischen Krieges. Die Versuche eines Aufstandes in Lyon und Marseille. Die Kommune. Die slawische Sektion der Internationale. Der Kampf gegen die Anhänger Lawrows. Der Ausschluß Bakunins aus der Internationale. Die Ankündigung seiner Zurückziehung von der öffentlichen Tätigkeit.
  11. Elftes Kapitel.
    Das Leben in Lokarno. Der Vorfall mit der „Baronata“ und der Bruch mit den jungen Anhängern. Die Zurückziehung nach Lugano. Krankheit und Tod.

„Michael ist in vielem schuldig und sündhaft; doch gibt es etwas an ihm, das alle seine Mängel überwiegt — das ist das ewig bewegende Prinzip, welches in der Tiefe seines Geistes lebt.“
Bjelinski.

„Seine hervorstechende Persönlichkeit, sein exzentrisches und starkes Auftreten überall — im Kreise der Moskauer Jugend, im Auditorium der Berliner Universität, unter den Kommunisten Weitlings und den Montagnards Caussidières, seine Reden in Prag, seine Führerschaft in Dresden, die Gerichtsverhandlungen, die Verurteilung zum Tode, die Mißhandlungen in Österreich, die Auslieferung an Rußland, wo er hinter den schrecklichen Mauern des Alexei Ravelin verschwand — machen aus ihm eine jener Individualitäten, an denen weder die zeitgenössische Welt noch die Geschichte achtlos vorübergehen kann.“
Herzen.

Erstes Kapitel.
Bakunins Jugend.

Michael Alexandrowitsch Bakunin wurde im Jahre 1814 am 8. Mai alten Stiles im Dorfe Premuchino im Kreise Torshok des Gouvernements Twer als Sprößling einer alten angesehenen Adelsfamilie geboren. Das Geschlecht der Bakunin stammt von einem ungarischen Auswanderer. Sein Vater Alexander Michailowitsch war früher Diplomat und als solcher Attaché bei der russischen Gesandtschaft in Florenz und Neapel gewesen, hatte aber später demissioniert, sich auf sein Gut zurückgezogen und hier als Vierzigjähriger die verhältnismäßig jugendliche schöne Warwara Alexandrowna Murawjewa geehelicht, die Tochter des Artilleriebrigadiers Alexander Feodorowitsch Murawjew. Durch sie war Bakunin mit dem Geschlecht der Murawjew verwandt, welchem Rußland einerseits den bekannten Unterdrücker des polnischen Aufstandes in Litauen Michael Nikolajewitsch Murawjew-Wilensky, genannt der Henker, verdankt, andererseits aber eine Reihe hervorragender Männer, die an der revolutionären Bewegung der Dekabristen Anteil nahmen.

Seine Mutter liebte Bakunin nicht; sie war eine herzlose Frau voll aristokratischer Vorurteile. Dagegen empfand er große Achtung und Liebe zu seinem Vater. Die Meinung freilich, dieser wäre ein Mann von liberalen Ansichten gewesen, ist mit Vorsicht aufzunehmen (obgleich Bakunin selbst in seiner Autobiographie dieser Meinung huldigt). In seiner Jugend war er vielleicht liberal angehaucht; er hatte sich sogar einer der ersten Dekabristengesellschaften angeschlossen, doch war dies zu einer Zeit geschehen, als die Ziele der zukünftigen Verschwörer sich noch nicht gefestigt hatten. Die Vereinigung hatte zu jener Zeit einen mehr kulturell-aufklärerischen Charakter. Später, nachdem er sich auf seinem Landgut niedergelassen, um sich der Landwirtschaft und der Erziehung seiner Kinder zu widmen, war er ein überzeugter Konservativer und ein Verteidiger der Leibeigenschaft geworden; ein Obskurant jedoch wie die meisten Adligen seiner Zeit war er nicht. Bakunins Vater besaß 500 Bauern„seelen“, zusammen mit denjenigen seiner Frau sogar 700; entgegen der Legende dachte er nicht daran, ihnen die Freiheit zu geben.

Nach allem, was wir von ihm wissen, war er ein gebildeter und humaner Mensch und verstand es, in seiner Familie eine Atmosphäre herzustellen, in der Männer wie Stankewitsch1 und Bjelinski2 sich wohl fühlten. Es ist daher nicht verwunderlich, daß die Kinder für immer ein warmes Gefühl zu ihrem liebevollen, toleranten und aufgeklärten Vater bewahrten.

Außer Michael, seinem Ältesten, hatte das Ehepaar Bakunin noch fünf Söhne und fünf Töchter. Einige von Michaels Brüdern (Alexander, Alexei, Nikolaus, Paul) spielten später bei der Bauernbefreiung eine Rolle oder waren in der Semstwo tätig. Bei all ihrem Liberalismus und ihren philosophischen Interessen verhielten sich diese Brüder in empörendster Weise gegen Bakunin und überließen ihn, als er Emigrant geworden, seinem Schicksal, was ihn in eine überaus schwierige Lage brachte und nötigte, zu fremder Hilfe Zuflucht zu nehmen. Auf dem Boden dieses chronischen Geldmangels, hervorgerufen durch die empörende Teilnahmslosigkeit seiner Angehörigen, ist die Ansicht von dem ungenierten Verhalten Bakunins fremden Geldmitteln gegenüber erwachsen.

Seine Eltern erwählten ihrem Sohne die militärische Laufbahn und schickten den Vierzehnjährigen nach Petersburg, wo er 1829 als Kadett in die Artillerieschule eintrat. Hier zeigte Bakunin eine große mathematische Begabung. Zu jener Zeit war er noch ein großer Patriot wie die Masse des Adels, dessen Chauvinismus durch den polnischen Aufstand entfacht worden war. Der traditionelle religiöse Glaube war durch den Einfluß der Schule, in welcher der Geist leichtsinnigen Lebensgenusses herrschte, untergraben. Charakteristisch ist, daß schon während seines Schulaufenthaltes sich bei Bakunin jener Leichtsinn in Geldfragen zu offenbaren begann, welcher sich später während seines Emigrantenlebens verstärkte. Er begann Schulden zu machen, und seine Schulkameraden ließen ihn Wechsel unterschreiben, was die Proteste und Vorwürfe eines Vaters hervorrief.

Im Januar 1833, das heißt im Alter von 18 Fahren wurde Bakunin Offizier. In dieselbe Zeit fällt der Anfang seines Kampfes gegen den Familiendespotismus. In ihm erwachten der Freiheitsdrang und intellektuelle Bestrebungen, wenn auch noch in unbestimmter Form, so daß es ihm immer schwerer wurde, in der geistlosen Atmosphäre der Lehranstalt sich wohl zu fühlen. Anfang 1834 hatte er einen Zusammenstoß mit dem Leiter der Schule, dem General Ssuchosanet, welchem der jugendliche Offizier nicht mit gehöriger Ehrfurcht antwortete. Daher ließ sich Bakunin, ohne das Ende der Offizierskurse abzuwarten, in eine der Armeeartilleriebrigaden, die in den westlichen Gouvernements ihr Quartier hatten, überführen. Auf diese Weise in das Milieu einer „kleinen Garnison” geraten, mit ihren kleinlichen Interessen, unter Kameraden, die nur für Branntwein und Karten Sinn hatten, begann der die Geselligkeit hochschätzende Jüngling bald die erzwungene Einsamkeit als Last zu empfinden. Lange Tage verbrachte er im Schlafrock auf seinem Bett. Und schon damals begann er, über den Zweck seines Daseins nachzudenken und darüber, welcher Platz ihm „vorausbestimmt sei, in der unendlichen Maschine einzunehmen“ (Brief vom 19. Dezember 1834).

Bei er Verlegung der Brigade kam Bakunin nah Wilna wo er auf den Bällen zum erstenmal die polnische Gesellschaft kennen lernte. Im Gouvernement Grodno machte er die Bekanntschaft seines Onkels Michael Nikolajewitsch Murawjew, des späteren Bezwingers des Aufstandes, der damals Gouverneur von Grodno war und dem jungen Offizier Verachtung gegenüber den Polen einzuflößen suchte. Aber der Anblick des unglücklichen, mit Soldatenstiefeln getretenen Landes mußte ganz andere Gefühle in der Brust des Jünglings erwecken, nämlich Haß gegen den Despotismus und Sympathie für die Unterdrückten. Es ist leicht möglich, daß diese Eindrücke des polnischen Aufenthaltes auf seinen Entschluß, den Offiziersrock auszuziehen, nicht ohne Einfluß blieben. Jedenfalls konnte Bakunin, der Großes in sich fühlte und für einen ganz anderen Beruf schwärmte, sich nicht mit der Laufbahn eines Fähnrichs zufrieden geben, der in irgend einem faulen Nest fortvegetiert und sich mit Soldatendrill beschäftigt. Am 18. Dezember wurde er „auf eigenes Gesuch“ aus dem Dienst entlassen.

Die Eltern konnten sich natürlich nicht damit versöhnen, daß ihr ältester Sohn seine dienstliche Laufbahn so rasch beendete. Gestützt auf seine Verbindungen, suchte der Vater ihn im Zivildienst unterzubringen. Der Gouverneur von Twer, Graf Tolstoi, bot Bakunin die Stellung eines „Beamten für besondere Aufträge“ an, doch dieser schlug dieses ehrende Anerbieten rundweg ab. Er war schon im Banne anderer Interessen. Freilich dachte er damals noch nicht an eine revolutionäre Tätigkeit, doch hatte er beschlossen, sich der Wissenschaft zu widmen.

Den Herbst 1835 brachte Bakunin teils in Twer, teils in Premuchino bei seinen Verwandten zu. Dies war die Zeit eines entscheidenden Umschwunges im Leben des zukünftigen Agitators. Damals machte er die Bekanntschaft Stankewitschs, eines jungen Philosophen, der in Moskau einige fortschrittlich gestimmte junge Leute um sich geschart hatte, von denen viele später eine hervorragende Rolle in der intellektuellen Entwicklung der russischen Gesellschaft spielen sollten. Bakunin machte auf Stankewitsch den besten Eindruck, und dieser nannte ihn eine „reine, edle Seele”. Unter dem Einfluß Stankewitschs begann sich Bakunin für die deutsche idealistische Philosophie zu interessieren und machte sich Anfang November 1835 an das Studium der „Kritik der reinen Vernunft“, Da er sich zur Professur vorbereitete, dachte er als Hörer auf die Universität zu gehen und dann ins Ausland zu reisen. Der Vater schlug ihm dies ab mit Berufung auf Geldmangel. Bakunin war so unglücklich, daß er sogar zu trinken anfing, was aber nur eine Woche dauerte. Dann verließ er das väterliche Haus und reiste Anfang 1836 nach Moskau.

Dort schloß er sich noch enger an den stankewitschschen Kreis an. Eine Zeitlang wohnte er sogar mit letzterem zusammen und las mit ihm außer philosophischen Büchern auch Goethe, Schiller, Jean Paul Richter, Hoffmann usw.

Die Annäherung an Bjelinski war durch die Vermittlung Stankewitschs schon 1885 zustande gekommen. Bekannt ist der sehr bedeutende Einfluß Bakunins auf den großen russischen Kritiker, dessen Entwicklung sich damals unter starker Einwirkung Bakunins vollzog.

In Moskau ging Bakunin von Kant zu Fichte über und begann „Die Bestimmung des Gelehrten“ und „Die Anweisung zum seligen Leben“ zu studieren. In dieser Zeit versenkte er sich in die Sphäre des religiösen Gedankens. Es ist zu vermuten, daß diese Leidenschaft nicht ohne Einfluß auf seine weitere Entwicklung blieb, obzwar sie später in ihr Gegenteil, in kriegerischen Atheismus umschlug.

Fichtes Ansichten über die Liebe als die Grundlage des Lebens und über das Wesen der Seligkeit fielen damals mit den seinigen zusammen und entsprachen vollkommen seiner Stimmung. Sowohl die revolutionäre Richtung Fichtes als auch die für ihn charakteristische Idee des Gelehrten als eines Lehrers des Lebens, ja fast eines Propheten, harmonierten mit den innersten Bestrebungen seines jugendlichen Nachfolgers.3 Und als Mensch mit tatendurstigem Charakter, der sich nicht mit theoretischen Spekulationen begnügt und stets bereit ist, vom Wort zur Tat, von der Theorie zur Praktik überzugehen, begann Bakunin sofort seine Ansichten im Leben anzuwenden — zuerst im engen Kreise von Bekannten und Verwandten.

Es ist zu bemerken, daß schon damals Bakunin eine mystische Vorahnung seiner künftigen Bestimmung hatte; er fühlte, daß er eine hervorragende Rolle in der Geschichte der Menschheit spielen werde.

Diese begeisterte Stimmung, welche Bakunin in den Jahren des geistigen Umschwunges erfaßte, wurde durch den Umgang mit solchen ideal angelegten Menschen wie Stankewitsch und Bjelinski verstärkt. Vergessen wir nicht, daß in den dreißiger Jahren, ein Jahrzehnt nach dem Aufstand der Dekabristen, die freiheitlichen Regungen der fortgeschrittenen Schichten der russischen Gesellschaft, welche der Möglichkeit beraubt war, sich in der politischen Arena zu betätigen, mit Gewalt nach innen getrieben wurden. Diese Regungen richteten sich daher auf seelische Selbstvertiefung und verwandelten sich in unbestimmtes Drängen nach etwas Hohem und Schönem, nach Lösung der Fragen über den Zweck des Lebens, die Bestimmung des Menschen, seine Aufgaben auf der Erde usw. Und je tiefer diese Regungen verborgen, je abstrakter die der Wirklichkeit scheinbar ganz entfremdete Form, in die sie gekleidet werden mußten, um so gespannter wurde ihr Charakter, um so stärker nahmen sie die Seele gefangen, um so intensiver arbeiteten sie in den Köpfen. Es war eine Periode, in welcher die Leidenschaften, keine praktische Anwendung findend, eine ungewöhnliche Spannkraft und Heftigkeit erreichten.

Die Lehren Fichtes darlegend, schreibt Bakunin am 29. Februar 1836: „Also: zu lieben, unter dem Einfluß eines Gedankens zu handeln, welcher durch das Gefühl erwärmt wird — dies ist die Aufgabe des Lebens.“ Und weiter verwirft er den falschen Patriotismus und die damaligen leeren privaten und gesellschaftlichen Interessen und fährt fort: „Ich habe mich auf immer von der Welt, von der Gesellschaft getrennt — ich bin ein einfacher Lehrer der Mathematik. Es ist an der Zeit, die Heimat aufzusuchen, es ist an der Zeit, sich zu sammeln. Also: das Ziel des Lebens, der Gegenstand der wirklichen Liebe ist Gott! Nicht jener Gott, zu dem man in den Kirchen betet; nicht jener, dem man zu gefallen glaubt, indem man sich vor ihm erniedrigt: nicht derjenige, welcher abgetrennt von der Welt die Lebenden und die Toten richtet — nein! der, welcher in der Menschheit selbst lebt; der, welcher sich erhebt mit der Erhebung der Menschheit; der, welcher durch den Mund Jesu Christi die heiligen Worte des Evangeliums gesprochen; der, welcher durch den Mund des Dichters spricht.“

Keine halben Urteile anerkennend, will der jugendliche Idealist sich mit einer relativen Wahrheit nicht zufrieden geben. Der zukünftige unversöhnliche Rebell unterstreicht, von den Ideen Fichtes durchdrungen, seine Verachtung gegenüber allen menschlichen Verhältnissen, die „in dogmatische Form gebannt“. Schon jetzt offenbart sich das stürmische Temperament des zukünftigen Apostels der universellen Anarchie. „Ich bin schon Mensch,“ schreibt er seiner Schwester Warwara im Februar 1836, „weil ich es sein will, weil ich berufen bin, es zu sein. Ich habe kein anderes Ziel, als Mensch zu sein, und alles, was mich hindert, zu diesem Ziele zu schreiten, zerschmettere ich. Verflucht seien alle diese Verhältnisse, die durch die Erniedrigung des Menschen geschaffen; verflucht seien all diese relativen Ideen, die keinen Sinn haben und dennoch den Willen einschränken, Man muß all das Falsche zerschlagen, ohne Mitleid und ohne Ausnahmen, damit die Wahrheit triumphieren kann — und sie wird triumphieren. … Die absolute Wahrheit und nicht die an diese oder jene Verhältnisse angeknüpfte — das ist mein Wahlspruch.“

Bakunin weiß, daß die Neuerer, besonders die Parteigänger der absoluten Wahrheit, zu Leiden vorausbestimmt sind, doch das schreckt ihn nicht. Dieses Leiden soll aber nur nicht unbewußt und apathisch sein, es soll überhaupt nicht abstrakt und vom wirklichen Leben abgelöst sich vollziehen, sondern ganz konkrete praktische Ziele soll es sich stellen. „Die Bestimmung des Menschen,“ schreibt er am 9. März 1836 seiner Schwester Warwara, „besteht durchaus nicht darin, hier auf Erden mit in den Schoß gelegten Händen zu leiden in der Hoffnung, dadurch das mythische Himmelreich zu verdienen. Sie besteht vielmehr darin, dieses Himmelreich, diesen Gott, den der Mensch in sich trägt, auf die Erde zu bringen; das praktische Leben zu erhöhen, die Erde zum Himmel zu erheben — dies ist seine hohe Mission. So sei er denn ihrer würdig und begeistere sich an ihrem heiligen Charakter in allen seinen Taten, in den geringfügigsten Verhältnissen; alles, was sich mit dieser seiner heiligen Herkunft nicht verträgt, möge er aus seinem Dasein bannen!“

Man sieht, daß hier in metaphysisch-abstrakten Ausdrücken, die der damaligen deutschen idealistischen Philosophie eigen waren, im Grunde genommen viele von den Ansichten und Stimmungen formuliert sind, welche später Bakunin als Führer des Anarchismus auszeichneten. In den Biographien Bakunins finden wir oft die Verwunderung ausgedrückt über die schnelle Entwicklung, die er in den Jahren 1840 bis 1842 durchmachte, als er sich gleichsam plötzlich, unter dem Einfluß unbekannter und unerklärlicher Ursachen, aus einem abstrakten Idealisten in einen extremen Revolutionär und Rebellen verwandelte. Aber seine Jugendkorrespondenz, die erst vor kurzem von A. Kornilow veröffentlicht worden ist und daher den früheren Biographen unbekannt geblieben war, zeigt, daß das Streben nach dem Absoluten, der Bruch mit den Traditionen, die Verachtung der eingewurzelten Formen und Dogmen, das Streben, den Himmel auf Erden zu tragen, die Forderung erbarmungslosen Zerstörens alles Falschen, alles der Errichtung eines neuen Lebens Hinderlichen und vieles andere Bakunin seit dem Anfang seines bewußten Daseins eigen war. Die Bekanntschaft mit dem europäischen Leben half ihm bloß, diese unbestimmten Bestrebungen in Fleisch und Blut zu kleiden, und veranlaßte ihn, seine Ansichten genauer zu formulieren und sie nicht mehr in den Begriffen der idealistischen Philosophie auszudrücken, sondern in denjenigen der juristischen und politisch-ökonomischen Wirklichkeit. Selbstverständlich war das ein längerer Prozeß, und wie wir weiter unten sehen werden, gelangte Bakunin erst allmählich und mit großen Zögerungen zu seinen anarchistischen Gedanken. Doch wir wiederholen: die Keime dieser Bestrebungen und Stimmungen waren schon in der Seele des jungen Bakunin vorhanden, ebenso wie der Glaube an seine Kräfte und seine Vorausbestimmung.

Seit dem Jahre 1837 beginnt seine Bekanntschaft mit der Philosophie Hegels, welche auf ihn sowie durch seine Vermittlung auf ihm nahestehende Leute einen großen Einfluß ausüben sollte.

Der berühmte Hegelsche Satz: „alles Wirkliche ist vernünftig, alles Vernünftige wirklich“ machte auf Bakunin sofort einen kolossalen Eindruck, Dies ist nicht verwunderlich, wenn wir bedenken, daß Bakunin stets nach dem Absoluten strebte, stets den Stein der Weisen suchte, der ihm sofort Die Gesetze des Weltalls und den Sinn des Lebens enthüllen könnte. Interessant ist, daß Bakunin von Anfang an den Sinn jenes Satzes richtig wiedergab, den Hegel in seiner „Enzyklopädie“ aufklärt.

Kaum mit der Philosophie Hegels bekannt geworden, eilt der geborene Propagandist schon, seine Freunde in dieselbe einzuweihen. Eigentlich müßte Stankewitsch als der erste russische Hegelianer gelten, der, wie es scheint, auch Bakunin zuerst bewog, sich mit der Hegelschen Philosophie bekannt zumachen. Aber Bakunin, als die glänzendere Erscheinung, dabei mit großen dialektischen Begabungen ausgestattet, mit seiner Redegewandtheit und seiner stürmischen Proselytenmacherei, nahm in dem Kreise bald die Rolle des anerkannten Propheten und des Verkündigers der neuen Wahrheit auf sich. Nach dem Zeugnis Turgenjews, der damals auch Mitglied des Zirkels war, suchten die russischen Hegelianer in der Philosophie am allerwenigsten rein theoretische Wahrheit; am meisten interessierte sie die Anwendung, und sie meinten, in ihr eine direkte Antwort auf praktische Fragen, besonders auf die Frage nach dem Verhältnis zur Wirklichkeit — und zwar zur damaligen russischen Wirklichkeit — zu finden. Im Einklang mit der Niedergeschlagenheit der fortschrittlichen Elemente antworteten sie auf diese Frage im Sinne der Versöhnung mit dieser Wirklichkeit.

Bakunin legte seine Ansichten in seiner Vorrede zur Übersetzung von Hegels „Gymnasialreden“ nieder, die im „Moskauer Beobachter“ im Jahre 1838 abgedruckt wurde. In diesem Artikel, an welchen er später nicht erinnert zu werden liebte, der aber gewissermaßen ein Manifest seines Zirkels darstellte, entwickelte er seine Auffassung des unlängst von ihm erfaßten Prinzips von der Vernünftigkeit alles Wirklichen. Der Materialismus wird angegriffen, dieser „Triumph der geistlosen Idee“, und es heißt, daß „die Revolution die notwendige Folge dieser geistigen Korruption gewesen“. Besonders heftig zieht er gegen den Materialismus wegen der „Zerstörung der Religion“ zu Felde, denn „wo keine Religion, da kann kein Staat bestehen“, weil „die Religion die Substanz, das Wesentliche im Leben eines jeden Staates ist“. „Der endliche Verstand“ hindert uns, zu sehen, daß „im Leben alles schön, alles gut ist, und das selbst das Leiden notwendig ist als Reinigung der Seele“. Schiller wird der „Schönseligkeit“ angeklagt, welche in den Augen eines Hegelianers eine Todsünde bedeutet; in seinen „schönseligen“ Dramen „Die Räuber“ und „Kabale und Liebe“ habe er es sich erlaubt, „gegen die öffentliche Ordnung zu rebellieren“, doch die lebendige Substanz Schillers habe ihn aus dem „Reiche der leeren Gespenster“ befreit, und „jedes neue Jahr seines Lebens sei ein Schritt zur Versöhnung mit der Wirklichkeit“ gewesen. Das junge Deutschland wird für „lächerlich“ erklärt, da es „das kluge Vaterland nach seinen kindischen Phantasien modeln wollte”. Da die Wirklichkeit stets siegt, so ist der Kampf gegen sie ein Zeichen geistiger Leere, die Versöhnung dagegen ein Zeichen der Weisheit: „Gegen die Wirklichkeit sich erheben und in sich jeden lebendigen Quell des Lebens töten — ist ein und dasselbe: die Versöhnung mit der Wirklichkeit ist in jeder Hinsicht die große Aufgabe unserer Zeit.“ Und er endet mit der Überzeugung, daß „die neue Generation sich endlich mit unserer wundervollen russischen Wirklichkeit versöhnen und, die leeren Prätensionen auf Genialität beiseite lassend, das gesetzliche Bedürfnis empfinden wird, wirkliche russische Leute zu werden“.

Solcher Art waren die damaligen Ansichten Bakunins. Wenn wir sie mit den Anschauungen zusammenstellen, die er später als Haupt des anarchistischen Flügels der Internationale vertrat, werden wir zwischen diesen und jenen bedeutende Analogien, oft sogar buchstäbliche Wiederholung der Ausdrücke bemerken; doch dort, wo der junge Hegelianer der dreißiger Jahre ein Plus stellte, setzte der Apostel der allgemeinen Zerstörung ein Minus. Alle die Sünden, die er früher dem Materialismus zuwälzte, bezog er später — und zwar mit größerem Recht — auf den Idealismus. Wenn früher sein Ideal des Dichters der „Olympier“ Goethe war, während Schiller wegen des Hanges zum Protest gegen die hergebrachte Ordnung verlacht wurde, so werden später im Gegenteil die Rebellen verherrlicht und die Rebellion für den Grundzug der menschlichen Natur erklärt. Wenn die Religion in Schutz genommen wurde, weil ohne sie der Staat nicht möglich sei, so wird in Zukunft gerade deshalb der Kreuzzug gegen sie gepredigt und über den Staat selbst der Fluch ausgesprochen. Doch der Grundgedanke von ihrem unlösbaren Zusammenhang bleibt bestehen und bildet sogar das Fundament der anarchistischen Weltanschauung Bakunins.

Doch konnte Bakunin dem Grundcharakter seines Temperamentes nach sich nicht mit der Ausarbeitung seiner eigenen Weltanschauung begnügen. Schon .damals offenbarte sich an ihm derjenige Zug, der später so glänzend von Herzen4 beschrieben worden ist. Er brauchte Anhänger, Gleichgesinnte, Einverstandene, einen Chor, der ihn unterstützen konnte und auf den er einwirken konnte. Das Propagandamachen war sein angeborener Zug. Doch auch Anhänger, theoretisch Gleichgesinnte genügten ihm nicht; er mußte sie in eine treue Kirche organisieren, vereinigen, gruppieren, zusammenschweißen, so daß sie mit Hingebung und Ehrfurcht der Stimme des Meisters lauschten. Schon im Herbst 1835, als er noch in Twer lebte und die „Anweisung“ Fichtes las, bildete sich bei ihm der Plan einer eigentümlichen geschlossenen religiösen Bruderschaft aus, in welche er seine eigenen Schwestern und Brüder einführen wollte. Später, als der unbestimmte Idealist sich in einen Rebellen verwandelte, begann er revolutionäre Bruderschaften zu gründen, nationale und internationale. Doch die Idee, die Bestrebung war dieselbe.

Und auf die Menschen zu wirken, hohe Bestrebungen in ihrer Seele zu wecken, das Feuer der Begeisterung in ihnen zu entflammen, das verstand dieser geborene „Menschenfänger“ auch als grüner Jüngling schon.

Natalie Beer, eine Freundin der Familie Bakunins, spricht sich über die Wirkung seiner Worte in einem Briefe an ihre Schwester vom 15. März 1835, als Bakunin noch keine 21 Jahre alt war, wie folgt aus: „Dies ist einer von denjenigen Menschen, deren Charakterstärke und Seelenbegeisterung Großes vermögen. … Seine Anwesenheit hat eine Wirkung auf mich ausgeübt, von welcher ich Dir niemals einen vollständigen Begriff werde geben können. Es war ein Chaos, ein Abgrund von Gefühlen, Ideen, die mich vollständig erschütterten; tausendmal machte ich mich daran, diese Dinge zu überdenken, zu vertiefen, und jedesmal verlor ich mich in ihrem Labyrinth. O, das kommt daher, weil das Herz und der Kopf Michaels ein solches Labyrinth sind, in welchem Du nicht bald einen wegweisenden Faden findest, und die Funken, die dann und wann aufflammen (denn sein Herz und sein Kopf sind aus Feuer), entzünden auch Dir unvermerkt Herz und Kopf.“

Man wird sagen, daß dies die Worte eines jungen exaltierten Mädchens sind, das rasch von dem feurigen Bakunin hingerissen wurde. Doch hier die Erzählung eines reifen Mannes namens Gubernatis, eines Professors des Sanskrits, der freilich damals erst 25 Jahre alt war. Bakunin traf mit ihm in Florenz zusammen, als er seine erste revolutionäre Bruderschaft zu gründen versuchte. Gubernatis widersetzte sich anfangs, wollte sich dem Einfluß Bakunins nicht hingeben und seine anarchistischen Theorien und Pläne nicht annehmen. „Nun“ — erzählt Gubernatis — „wandte er (Bakunin) seine ganze nicht geringe Redegewandtheit auf und überzeugte mich davon, daß in Anbetracht der Verschwörung des Staates gegen die Gesellschaft dieser Verschwörung eine andere entgegengesetzt werden müsse. … Von diesem Augenblick an umgarnte mich die große Schlange mit ihren fatalen Ringen; ich erklärte schließlich, wenn die Sache auf die unmittelbare soziale Revolution gehe, ich der geheimen Gesellschaft beitreten werde. Um 1 Uhr nachts kehrte ich nach Hause zurück, legte mich zu Bett und versuchte einzuschlafen, doch vergebens! Die neuen Gedanken hatten mein Gehirn so aufgeregt, daß ich nicht liegen konnte. Ich verließ das Bett, ging in schrecklicher Aufregung in meinen Zimmern auf und ab, die mir infolge der neuen Begeisterung, die sich meiner bemächtigt hatte, zu eng wurden; — ich verdammte die Abscheulichkeit und Nutzlosigkeit meines früheren Lebens und sagte laut zu mir selbst, daß es noch abscheulicher wäre, wollte ich mit meinen republikanischen, ja revolutionären Gefühlen noch eine Stunde länger in meinem öffentlichen Amte verbleiben.“

Unter dem Einfluß Bakunins verließ Gubernatis den Staatsdienst und trat in die geheime Bruderschaft ein. Freilich brach er bald mit der revolutionären Tätigkeit, doch das interessiert uns im gegebenen Falle nicht. Für uns war es wichtig, zu zeigen, welchen Einfluß Bakunin sogar auf Menschen ausübte, die der Revolution psychologisch fernstanden. Oben haben wir gesehen, wie groß die veredelnde Wirkung des jungen Bakunin auf die Schwestern Beer war; nicht geringerer Wirkung unterlagen seine leiblichen Schwestern und Brüder, die ersten Objekte seiner propagandistischen Tätigkeit. „Du hast uns neues Leben gegeben“ — schrieb ihm seine Schwester Ljubowj am 6. August 1836 —, „Du hast uns geholfen, das Ziel unseres Daseins zu erblicken.“ Zur selben Zeit schrieb seine Schwester Warja: „Deine kleine Herde erwartet Dich. Ich weiß in der Tat nicht, wie Du es angefangen, so unersetzbar zu werden. Der Himmel segne Dich!“ Doch müssen neben den positiven und hohen Eigenschaften Bakunins auch seine schwachen und kleinlichen Seiten vermerkt werden. An erster Stell steht hier sein leichtsinniges Verhalten in Geldangelegenheiten, der Mangel an Ausdauer in der Arbeit, der Hang, über die Persönlichkeit seiner Nächsten zu herrschen, sich in ihr intimes Leben einzumischen usw. Dadurch mußte Bakunin oft leiden. Diese Eigenschaften waren ohne Zweifel vorhanden. Nur muß man, um sie zu verstehen, sie in eine ganz andere Perspektive einstellen, als dies seine Gegner und Widersacher taten.

Es ist richtig, daß Bakunin in Geldfragen leichtsinnig war: Ruge, Herzen, Turgenjew — alle erwähnen in ihren Briefen und Erinnerungen diese Seite seines Charakters. Doch muß beachtet werden, daß Bakunin zu jener Sorte von Menschen gehörte, die „das fremde Dach zudecken, ihr eigenes aber aufdecken“, und daß er außerdem ewig in Geldnot war, da er keine Unterstützung vom Elternhaus bekam. Bei seinen Talenten hätte er mit Leichtigkeit die nötigen Mittel beschaffen können, wenn er sich für sein eigenes Wohlbefinden interessiert hätte.

Wenn Bakunin jemand gefragt hätte, was er vom Eigentumsrecht denke, hätte er antworten können, ähnlich wie Lalande auf die Frage Napoleons über Gott antwortete: „Sire, bei meinen Beschäftigungen stieß ich nirgends auf die Notwendigkeit dieses Rechtes.“ In ihm war etwas Kindliches, Gutmütiges, Einfaches, und dies verlieh ihm einen ungewöhnlichen Reiz, der die Schwachen und die Starken anzog und nur die steifen Philisterseelen abstieß.

Größtenteils waren es eingefleischte Egoisten, die Bakunin das leichtsinnige Verhalten zu fremdem Eigentum vorwarfen. Bjelinski zum Beispiel wußte sehr gut, daß Bakunin mit ebensolcher, wenn nicht mit größerer Leichtigkeit gab als nahm, während die Ankläger Bakunins über diese Seite meist zu schweigen lieben.

Die gegenseitigen Beziehungen dieser beiden bemerkenswerten Menschen beleuchten den Charakter eines jeden. Ungeachtet der negativen Eigenschaften Bakunins, die Bjelinski abstießen und sogar zu einem Bruche zwischen den beiden führte, war der große Kritiker dennoch von Bakunins großen Eigenschaften überzeugt. „Deine Unmittelbarkeit,“ schrieb er an Bakunin am 12. Oktober 1838, „hat mich nicht zu Dir geführt, sie hat mir sogar ganz entschieden mißfallen; doch mich hat das Kochen des Lebens, der unruhige Geist, das lebendige Streben zur Wahrheit eingenommen, zum Teil auch Dein ideales Verhältnis zu Deiner Familie — und Du warst für mich eine interessante und herrliche Erscheinung.“ Am 20. April schreibt ihm Bjelinski: „In meinen Augen bist Du jetzt nichts anderes als ein Ausdruck chaotischen Gärens der Elemente. Dein Ich strebt sich herauszuarbeiten, und zwar in riesenhaften Formen. Dieser seelische Vorgang ist für Dich schmerzhaft: in ihm vollzieht sich die Zerstörung zum Schaffen, die Fäulnis zu neuer Fruchtbarkeit“.

So charakterisiert der scharfsichtige Kamerad sehr glücklich den mächtigen Prozeß der schöpferischen Gärung, welcher in der geistigen Welt des jungen Bakunin vor sich ging. Und wer weiß! Als vier Jahre später Bakunin, der zu einer bestimmten revolutionären Weltanschauung gelangt war, seine berühmte Formel: „Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“ aufstellte, hat er sich vielleicht unbewußt der prophetischen Worte seines Freundes erinnert, daß in seiner Seele „das Zerstören sich zum Schaffen vollziehe“.

Und dieser Zug war es auch, der ihn veranlaßte, seine Freunde ewig zu belehren, sich in ihre intimen Angelegenheiten zu mischen (und nicht immer, wie es scheint, mit nötigem Takt), wobei er sie durchaus im Sinne von Hegels Logik entschieden wissen wollte. Daraus erwuchsen ihm häufige Konflikte, die nicht immer so friedlich abliefen wie mit dem feinfühligen Bjelinsfki.

Ein solcher Zusammenstoß passierte ihm unter anderem mit Katkow5 im Jahre 1839. Dieser zukünftige literarische Vertreter der Reaktion gebärdete sich in jungen Jahren äußerst liberal und gehörte ebenfalls zum Bakunin-Herzenschen Kreise. Mit Bakunin stand er auf bestem Fuße und nannte ihn „einen von den ihm bestbefreundetsten Menschen“. Doch im nächsten Jahre kam es zum Bruche. Bakunin mischte sich in irgend eine intime Angelegenheit Katkows, und nach dem Bericht des Biographen des letzteren, Newedensky, „verbreitete er über ihn Klatschereien, in die auch andere verwickelt waren“. Es kam so weit, daß Katkow, als er am 12. August 1840 bei Bjelinski mit Bakunin zusammentraf, demselben eine tätliche Beleidigung zufügte. Die Schlägerei endete mit einer Forderung Bakunins an Katkow; doch kam das Duell gar nicht zustande, was den Feinden Bakunins zu Insinuationen Anlaß gab; sie klagten ihn sogar der Feigheit an. Für jeden, der den Charakter Bakunins kennt, ist diese Anklage einfach lächerlich. Wahrscheinlich erklärt sich dieses Ausweichen vor dem Duell einfach dadurch, daß Bakunin in tiefster Seele seine eigene Schuld an dem Vorgefallenen fühlte.

Nicht lange vorher hatte sich Bakunin mit einem freundschaftlichen innigen Brief an Herzen und Ogarew6 gewandt, welche über große Mittel verfügten, und sie gebeten, ihm 2000 Rubel zu einer Reise ins Ausland zu leihen, wohin es ihn schon längst zog. Unter anderem schrieb er darin, daß „es dumm sein würde, zu sterben, ohne etwas Rechtes getan zu haben“, und daß er „mit allen Kräften danach streben werde, ihr Vertrauen zu rechtfertigen und alles darauf verwenden werde, ein lebendiger, wirklich geistiger, nicht nur für sich selbst, sondern dem Vaterland und allen ihn Umgebenden nützlicher Mensch zu werden“. Die Freunde ließen ihm die erbetene Hilfe angedeihen, und wir wissen, daß Bakunin sein Versprechen vollkommen erfüllt hat. Man kann frischweg behaupten, daß dieses Darlehen Herzens und Ogarews für Bakunins Auslandreise die produktivste aller ihrer Ausgaben gewesen ist.

Zweites Kapitel.
Bakunin im Ausland.

Bakunin hatte bei seiner Auslandreise keine politischen Ziele im Auge. Er wollte sich bloß einer gründlichen Selbstentwicklung widmen und besonders die deutsche Wissenschaft, speziell die Philosophie kennen lernen. Damals reflektierte er noch auf eine wissenschaftliche Karriere und hoffte, nach seiner Rückkehr nach Rußland eine Professur zu erhalten. Doch beschäftigten ihn selbstverständlich nicht diese praktischen Pläne; rein ideelle Interessen zogen ihn mächtig an; ihn trieb das Verlangen, die deutschen Professoren von Angesicht zu Angesicht zu schauen, ihre Bekanntschaft zu machen, eine Luft mit ihnen zu atmen, ihrem lebendigen Worte zu lauschen.

In unserer Zeit kann man sich kaum eine Vorstellung davon machen, mit welchem Interesse die fortschrittliche russische Jugend von damals sich zur deutschen Philosophie und speziell zum Hegelianismus verhielt. Bakunin besuchte die Vorlesungen, las, disputierte und erlebte überhaupt die Flitterwochen seines geistigen Daseins.

Bald nach seiner Ankunft in Berlin schrieb er einen Brief an Herzen, in welchem er seine damalige Stimmung wiedergab. Einerseits spiegelt sich in ihm der noch unerschütterliche Idealismus. „Was nun, Herzen; jetzt ist auch Stankewitsch nicht mehr da; der einzige Mensch, dessen unmittelbare Gegenwart allein schon den Glauben an die Idee wachrief. Dieser Mensch hat uns verlassen; sein Tod hat mich noch mehr von der Notwendigkeit der Unsterblichkeit des individuellen Geistes überzeugt.“ Zugleich lebte in ihm ein tiefer Glaube an die Wissenschaft, unter welcher man damals hauptsächlich die Philosophie verstand, und dabei noch in ihrer idealistischen, Hegelschen Form. „Glaubst Du oder zweifelt Du? Ich meine: dies und jenes zusammen, das ist der allgemeine Zustand des Geistes. Komm schnell hierher; die Wissenschaft wird alle Zweifel lösen, oder wenigstens den Weg zeigen, auf welchem sie gelöst werden müssen.” Andererseits zeigt sich schon ein gewisses Interesse für das politische Leben Deutschlands und einige Unzufriedenheit mit seiner Leerheit: „Die Deutschen sind schreckliche Philister; wenn auch nur der zehnte Teil ihres reichen geistigen Bewußtseins in das Leben übergehen würde, wären sie ausgezeichnete Leute; doch bis jetzt sind sie leider ein überaus komisches Volk.“

Mit dem Berliner Leben wurden Bakunin, Turgenjew und andere Russen, die nach Deutschland kamen, um die philosophische Weihe zu erhalten, durch Müller-Strübing bekannt gemacht, welcher im Anfang der dreißiger Jahre wegen Teilnahme an geheimen Studentenverbindungen zum Tode verurteilt und dann zu fünfjähriger Gefängnishaft begnadigt und im Jahre 1839 amnestiert worden war. Die damalige Stimmung der Berliner Russen beschreibend, erzählt uns Herzen: „Die Kenntnis Goethes, besonders des zweiten Teiles des ‚Faust‘ (sei es nun deswegen, weil er schlechter oder weil er schwieriger als der erste) war ebenso obligatorisch wie das Kleidertragen. Die Philosophie der Musik stand obenan. Von Rossini sprach man selbstverständlich nicht einmal; mit Mozart war man nachsichtig, obgleich man ihn kindlich und arm fand; dafür leitete man über jeden Akkord Beethovens philosophische Untersuchungen ein und achtete Schubert hoch, nicht so sehr wegen seiner ausgezeichneten Lieder, glaube ich, sondern weil er philosophische Themata in ihnen behandelte, zum Beispiel ‚Die Allmacht Gottes‘, ‚Atlas‘ usw. In gleicher Weise wie die italienische Musik war auch die französische Literatur verpönt, überhaupt alles Französische und nebenbei alle Politik.“

Der Vergil des philosophischen Fegefeuers, wie Herzen Müller-Strübing nannte, führte die nordischen Neophiten in das Berliner Leben ein und öffnete ihnen zugleich die Türen zum Heiligtum „des reinen Denkens“ und „des deutschen Kneipens“. Die Russen liefen mit Vergnügen hinter ihrem Leiter in die dumpfen Bierstuben: das burschikose Leben entzückte sie, und der schlechte deutsche Tabakrauch schien ihnen süß und angenehm.

Außerdem versammelten sich Bakunin: und die übrigen Russen ziemlich oft bei irgend einem von ihnen und führten Gespräche über verschiedene Themen. Doch war im allgemeinen der Ton dieser Gespräche noch sehr gemäßigt. Über die Bauernfrage hatte zum Beispiel Turgenjew7 damals noch sehr gemäßigte Ansichten, und auch Bakunin, der in seinen Wünschen viel weiter ging, sah die Befreiung der Bauern als eine Sache der entfernten Zukunft an.

Dennoch gewannen die Anschauungen Bakunins immer bestimmtere Umrisse, indem sie sich in der Richtung zum politischen Radikalismus entwickelten. Wenn er in Rußland ein Hegelianer schlechthin gewesen, so begann er in Berlin sich dem sogenannten linken Flügel der Hegelianer anzuschließen, der, bekanntlich mit den orthodox-preußischen Folgerungen Hegels nicht zufrieden, dieselben in radikalem Sinne umbildete. Es war die Zeit Feuerbachs und der kritischen Kritik. Die Dialektik Hegels, die unter der Hand des Meisters selbst eine zweideutige Anwendung erlitten, verwandelte sich in ihren Händen in einen mächtigen Sturmbock, mit dessen Hilfe sie alles Veraltete und der Vernunft Widersprechende zu zerstören suchten. Bakunin eignete sich bald den Geist der neuen kritischen Richtung an, wozu er durch seine lange bisherige Entwicklung vorbereitet war, und auf diesem Boden erwuchs sein enger Zusammenschluß mit Arnold Ruge, den er durch seine Einfachheit und seinen Verstand eingenommen hatte.

Sein erstes literarisches Auftreten in dieser Richtung war eine Broschüre, gerichtet gegen den Mystizismus Schellings. Diese Broschüre, „Schelling und die Offenbarung, Kritik des neuesten Reaktionsversuches gegen die freie Philosophie“, erschien anonym im Jahre 1842 in Dresden, wohin Bakunin Anfang desselben Jahres übergesiedelt war. Diese gegen Schelling gerichtete Schrift ist im Geiste des linken Flügels des Hegelianismus verfaßt und endet mit einem warmen Gruße an den „neuen Morgen“, welcher gleich dem hellenischen Bewußtsein „die Ganzheit, Selbständigkeit und Einheit der Welt“ verkündet.

Obgleich diese Broschüre von dem Widerstreit philosophischer Weltanschauungen handelt, ist sie im Grunde genommen der Ausdruck des politischen Kampfes, der damals in Begriffen der Philosophie ausgefochten wurde (ähnlich wie in Rußland in literar-kritischen Begriffen). Zweifellos spiegelt sich in den feierlichen Deklarationen Bakunins die radikalpolitische Bewegung, die im Links-Hegelianismus ihren Ausdruck fand, wider. Dies erklärt auch, warum Bakunin seine Autorschaft geheim gehalten wissen wollte, da er mit Recht befürchtete, die Nennung seines Namens könne ihm Unannehmlichkeiten eintragen.

Ruge schrieb im April 1842 an Rosenkranz, ihm die Schrift gegen Schelling empfehlend: „sie stammt von einem Russen, der jetzt hier lebt. Denke Dir nur, dieser liebenswürdige junge Mensch überholt alle die alten Esel in Berlin.“

Einmal in Fluß geraten, hörte die Entwicklung der Bakuninschen Ansichten nach links nicht mehr auf. Es muß übrigens bemerkt werden, daß sie mit der allgemeinen Entwicklung des europäischen und insbesondere des deutschen Gedankens, der gerade in dieser Periode einen Prozeß der Verschärfung und politischen Radikalisierung durchmachte, parallel lief. Bald nach der Veröffentlichung der Broschüre gegen Schelling schrieb Bakunin einen Artikel über die Lage Deutschlands, der entschiedener und politisch bestimmter gehalten ist. Er erschien in Ruges „Deutschen Jahrbüchern“ unter dem Titel „Die Reaktion in Deutschland“ und mit der Unterschrift „Jules Elizard“. In diesem „Fragment von einem Franzosen“ offenbarte sich nach Ruges richtiger Bemerkung der ganze Charakter Bakunins und war „die ganze weitere Entwicklung seines Denkens bis zum sozialdemokratischen inklusive“ enthalten.

Nur unter philosophischer Hülle konnte man damals mit solcher Schärfe und Offenheit schreiben, wie es Bakunin tat, der dem alten Regime kühn den Untergang voraussagte. Der Zensor verstand offenbar den Sinn des Artikels nicht, und sein roter Bleistift blieb diesmal ohne Anwendung. Dieser Artikel war gleichsam der Hahnenschrei, der die Nähe des revolutionären Morgens und der Bewegung von 1848 verkündete.

Er beginnt wie mit einem Posaunenstoß mit folgenden Worten: „Freiheit, Realisierung der Freiheit — wer kann es leugnen, daß dies Wort jetzt obenan steht auf der Tagesordnung der Geschichte?“ Und wie Ruge bemerkt, bedeutet Bakunins „Realisation der Freiheit“ „einfach die Revolution“!

Weiter unterzieht Bakunin alle bestehenden politischen Richtungen einer Analyse und erkennt mit Beiseitelassung aller dazwischenliegenden Tendenzen nur der reaktionären Partei und ihrem Antipoden, der Demokratie, eine wesentliche Bedeutung zu.

Den Konservativen, den Positivsten, den Verteidigern des Bestehenden stellt Bakunin die Negation entgegen, die er in der Devise der französischen Revolution findet: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, welche Worte die „gänzliche Vernichtung der bestehenden politischen und sozialen Welt bedeuten“. Dasselbe erblickt er in den in England und Frankreich entstandenen sozialistisch-religiösen Vereinen, welche der gegenwärtigen politischen Welt ganz fremd gegenüberstehen und aus neuen unbekannten Quellen schöpfen“.

Bakunin begrüßt die ersten Regungen der sozialistischen Bewegung in den Volksmassen, in welchen er mit Recht ein Unterpfand des Erwachens und der Befreiung der Menschheit sieht.

„Das Volk, die arme Klasse, welche ja ohne Zweifel die größte Mehrzahl der Menschheit bildet; die Klasse, deren Rechte man schon theoretisch anerkannt hat, die aber bis jetzt noch durch ihre Geburt, durch ihre Verhältnisse zur Besitzlosigkeit und zur Unwissenheit, somit aber auch zur faktischen Sklaverei verurteilt ist; diese Klasse, welche das eigentliche Volk bildet, nimmt überall eine drohende Haltung an und beginnt ihre Rechte zu fordern. Alle Völker und Menschen sind von einer gewissen Ahnung erfüllt und sehen mit einer schauerlichen Erwartung der nahenden Zukunft entgegen, welche das erlösende Wort aussprechen wird. In Rußland selbst, in diesem endlosen, schneebedeckten Reiche, das wir so wenig kennen und dem vielleicht eine große Zukunft bevor steht — in Rußland selbst sammeln sich dunkle, Gewitter verkündende Wolken! O, die Luft ist schwül, sie ist schwanger mit Stürmen!

Und darum rufen wir unseren verblendeten Brüdern zu: Tut Buße! Tut Buße! — Das Reich des Herrn ist nahe … Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust.“

„Wo hatte der Professor Wachsmuth seinen Rotstift,” ruft Ruge aus, „als er diese Stellen passieren ließ?“ Doch wenn der Zensor nicht rechtzeitig aufgemerkt hatte, so verstanden die Gesinnungsgenossen des Autors sein neues Werk sofort und lernten es schätzen.

Wie es scheint, hat Bakunin schon in Berlin die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich gelenkt. In Dresden verschlechterte sich sein Verhältnis zu derselben noch durch folgendes Ereignis: Der revolutionäre Dichter Georg Herwegh war nach Dresden gekommen, und da Bakunin in einer großen und bequemen Wohnung lebte, brachte Ruge Herwegh bei ihm unter. Durch diese dem Dichter erzeigte Gastfreundschaft lenkte Bakunin einen solchen Verdacht auf sich, daß seine Freunde für seine Sicherheit in Sachsen zu fürchten begannen. Man fing schon an, ihn als politisch unzuverlässig zu betraten. Seine Beziehungen zum jungen Deutschland, zu dem linken Flügel der Hegelianer, sein freies Benehmen in Dresden lenkten die Aufmerksamkeit auf ihn. Während des Abschieds von seinen Freunden am Abend auf der Dresdener Promenade pflegte er, auf das Nahen eines revolutionären Sturmes anspielend, das Lied aus den „Hugenotten“ zu singen:

Er nahm den Säbel in die Rechte
und eilte mutig zum Gefechte;
Es lebe der Vater Coligny!

Dies war sein Lieblingslied. Er soll es noch nach 25 Jahren in Neapel angestimmt haben.

Bakunin begab sich mit Herwegh zusammen nach Zürich. In der Schweiz verlebte er das ganze Jahr 1843. Hier trat er in Beziehungen mit den um Weitling sich gruppierenden Kommunisten. Bald wurde die Züricher Polizei auf ihn aufmerksam. In dem der Züricher Regierung durch Bluntschli überreichten Bericht über die kommunistischen Umtriebe in der Schweiz war auch Bakunin als einer der Tätigen erwähnt. Auf Anfrage der russischen Gesandtschaft, beeilte sich die Züricher Polizei, derselben die ihr bekannten Tatsachen über Bakunin mitzuteilen. Die russische Gesandtschaft benachrichtigte die Petersburger Regierung, und letztere verlangte, Bakunin solle sofort nach Rußland zurückkehren. Dieser weigerte sich in Voraussehung dessen, was ihn erwartete, der Forderung Folge zu leisten, und wurde dafür dem Gericht des Senats und des Staatsrats überliefert. Das Gericht erkannte den Fähnrich außer Dienst Bakunin, 28 Jahre alt, für schuldig, „im Ausland Beziehungen mit einer Gesellschaft von Übeltätern gepflegt zu haben, und der Forderung der Regierung sowie dem allerhöchsten Befehl zur Rückkehr nicht gehorcht zu haben“, wofür es ihn des Offiziers- und des Adelsranges für verlustig erklärte und ihn im Falle seiner Rückkehr zur Deportation nach Sibirien und zu Zwangsarbeiten verurteilte. Bakunin reiste nach Paris.

Während seines Schweizer Aufenthaltes hatte Bakunin noch einen Schritt vorwärts gemacht, und seine Ansichten hatten sich noch mehr geklärt. Wenn er früher bloß zum politischen Radikalismus neigte, so begannen jetzt seine Anschauungen unter dem Einfluß seiner neuen Genossen sich sozialistisch zu färben.

In Dresden hatte Bakunin die Bekanntschaft des Musikers Adolf Reichel, welcher später die Russin Marie Kasparowna Ern heiratete, gemacht und sich mit ihm befreundet. In Bern trat er im Winter 1843/44 in nahe Beziehungen zur Familie Vogt, besonders zu dem späteren Professor der medizinischen Fakultät in Bern Adolf Vogt, dessen intimer Freund er wurde.

In Paris, wohin er mit seinem Freunde Reichel reiste, traf er aufs neue mit Herwegh und seiner jungen Frau zusammen. Hier machte er auch die Bekanntschaft von Pierre Leroux, George Sand, Proudhon und Karl Marx. In jenen Jahren war Paris ein siedender Kessel neuer sozialer und politischer Ideen. Einerseits erhob der politische Radikalismus das Haupt, andererseits traten die sozialistischen Bestrebungen aus dem Dunkel hervor. Es bereitete sich die stürmische Bewegung von 1848 vor. Diese Jahre des Pariser Aufenthaltes übten einen entscheidenden Einfluß auf Bakunins geistige Entwicklung aus und formten endgültig seine sozial-revolutionären Ansichten.

Zum Verdruß seines alten Mitkämpfers Ruge schloß sich Bakunin bald den Kommunisten an, mit welchen Ruge selbst in Kampf geriet. In dieser Beziehung ist der Einfluß der Bekanntschaft mit Proudhon und Karl Marx unzweifelhaft. Was Proudhon betrifft, so war hier die Beeinflussung eine gegenseitige, und von welcher Seite sie größer gewesen, ist noch eine Frage. Bakunin selbst war nach Rallys Zeugnis geneigt, Proudhon als seinen Schüler zu betrachten, nicht als seinen Lehrer. Unzweifelhaft stand er in geistiger Beziehung, besonders was die philosophische Bildung anbelangt, höher als Proudhon. Der letztere lernte die deutsche Philosophie und speziell Hegel hauptsächlich durch Bakunin kennen (zum Teil auch durch Marx). Proudhon konnte Bakunin durch seine politischen Ansichten und durch seine Formeln des Föderalismus und der Anarchie beeinflussen. Doch während die Anarchie Proudhons einen kleinbürgerlichen Charakter trägt und das Mißtrauen sowie den Haß des dem Ruin entgegengehenden kleinen Warenproduzenten dem Staat gegenüber ausdrückt, welcher in der heutigen Gesellschaft das Wachstum des Großkapitals unterstützt, versuchte Bakunin die anarchistische Idee von dieser kleinbürgerlichen und konservativen Hülle zu befreien und ihr einen rein revolutionären und proletarischen Charakter zu verleihen.

Mit viel größerem Rechte kann von einem Einfluß Marxens auf Bakunin gesprochen werden. „Marx,“ schrieb Bakunin späterhin (das Manuskript datiert aus dem Jahre 1871), „war damals der bei weitem extremere von uns beiden, und auch jetzt ist er wenn nicht extremer, so unvergleichlich gelehrter. Ich hatte damals keinen Begriff von der politischen Ökonomie und war noch in den metaphysischen Abstraktionen befangen, und mein Sozialismus war ein rein instinktiver. Er dagegen, obgleich jünger als ich, war schon Atheist, gelehrter Materialist und bewußter Sozialist. Gerade damals arbeitete er die ersten Grundlagen seines jetzigen Systems aus, Wir trafen uns recht häufig, weil ich ihn wegen seines Wissens sowie wegen des leidenschaftlichen Ernstes, mit welchem er der Sache des Proletariats ergeben war, hochschätzte; ich suchte mit Eifer seinen Umgang auf, welcher immer belehrend und geistreich war, außer wenn er von kleinlicher Bosheit inspiriert war, was leider oft der Fall. Doch bestand zwischen uns niemals vollständiges Einvernehmen. Dies ließen unsere Temperamente nicht zu. Er nannte mich einen sentimentalen Idealisten und hatte recht; ich nannte ihn einen finsteren, treulosen und eitlen Menschen und hatte ebenfalls recht.“

Jedenfalls unterliegt es keinem Zweifel, daß der Einfluß Marxens die Entwicklung Bakunins endgültig ins sozialistische und materialistische Fahrwasser lenkte. Besondere Wichtigkeit maß Bakunin der Geschichtsphilosophie Marxens bei, und in der Polemik zwischen Marx und Proudhon stellte er sich entschieden auf Seite des ersteren — mit Ausnahme eines einzigen Punktes, der Staatslosigkeit. Während des Höhepunktes seines Kampfes mit Marx sprach sich Bakunin, nachdem er auf die angeblichen Mängel des Begründers der Internationale hingewiesen, folgendermaßen über „diese bemerkenswerte Persönlichkeit“ aus:

„Selten kann man einen Menschen finden, der so viel wußte und so viel las, dabei so verständig las, wie Marx. Der ausschließliche Gegenstand seiner Beschäftigungen war schon in dieser Zeit (1843 bis 1844) die ökonomische Wissenschaft. Mit besonderem Fleiß studierte er die englischen Ökonomen, welche alle übrigen durch positive Kenntnisse, praktische Gedankenrichtung, die an den englischen wirtschaftlichen Tatsachen gebildet ist, sowie durch strenge Kritik und Kühnheit der Folgerungen übertreffen. Doch zu all dem fügte Marx noch zwei neue Elemente hinzu: eine höchst abstrakte, wunderlich-feine Dialektik, die er in der Schule Hegels erworben und die er oft bis zur Spielerei, bis zur Ausschweifung weiterbildet, sowie den Kommunistischen Ausgangspunkt.

Marx hat selbstverständlich alle französischen Sozialisten, von Saint-Simon bis Proudhon inklusive, gelesen; letzteren haßte er bekanntlich, und es unterliegt keinem Zweifel, daß in seiner gegen Proudhon gerichteten schonungslosen Kritik viel Richtiges ist. Proudhon ist trotz aller Anstrengungen, auf realen Boden zu gelangen, Idealist und Metaphysiker geblieben. Sein Ausgangspunkt ist die abstrakte Idee des Rechtes; vom Recht aus kommt er zur ökonomischen Tatsache, während Marx im Gegensatz dazu die unzweifelhafte, durch alle frühere und jetzige Geschichte der menschlichen Gesellschaft, der Staaten und Völker bewiesene Wahrheit ausgesprochen und bewiesen hat, daß die ökonomische Tatsache stets dem juridischen und politischen Recht vorausgeht und vorausging. In der Darlegung und dem Beweis dieser Wahrheit besteht eben einer der Hauptverdienste Marxens um die Wissenschaft.“

An einer anderen Stelle (in einem Manuskript aus dem Jahre 1870) stellt er folgenden Vergleich zwischen Proudhon und Marx an. Den Gedanken wiederholend, Proudhon sei sein Leben lang ein unverbesserlicher Idealist geblieben, fährt er dann fort: „Er hatte geniale Gedankenblitze, die ihm den richtigen Weg wiesen, doch im Banne der schlechten idealistischen Gewohnheiten seines Verstandes fiel er jedesmal wieder in die alten Fehler zurück: infolgedessen war Proudhon ein ewiger Widerspruch, ein gewaltiges Genie, ein revolutionärer Denker, der beständig mit den Phantomen des Idealismus kämpfte und sie niemals zu besiegen verstand.

Marx geht als Denker einen richtigen Weg; er hat das Prinzip festgestellt, daß in der Geschichte alle politischen, religiösen und rechtlichen Entwicklungen nicht die Ursache, sondern die Folge der ökonomischen Entwicklung sind. Dieser große und fruchtbare Gedanke wurde nicht von ihm erdacht: er war von vielen anderen vorausgesehen, zum Teil sogar ausgesprochen; doch gehört in letzter Instanz ihm das Verdienst, ihn solide begründet und zum Fundament seines ganzen Ökonomischen Systems gemacht zu haben. Andererseits verstand und fühlte Proudhon die Freiheit viel besser als Marx. Wenn Proudhon nicht in Doktrinarismus und Metaphysik verfällt, besitzt er den wirklichen Instinkt eines Revolutionärs: er betet Satan an und verkündet die Anarchie. Es ist sehr wohl möglich, daß Marx sich theoretisch zu einem noch rationaleren System der Freiheit aufschwingen könnte; doch ihm fehlt der Instinkt der Freiheit; er ist vom Fuß bis zur Zehe Autoritarier.“

Später kommen wir noch auf das Verhältnis von Bakunin zu Marx und Proudhon zurück. Für unser jetziges Ziel genügt das Gesagte. Es ist ganz offenbar, daß Marx einen entscheidenden Einfluß auf die Ausarbeitung von Bakunins Ansichten ausgeübt und seine Aufmerksamkeit auf die wirtschaftlichen Fragen, die früher außerhalb seines Interessenkreises lagen, gelenkt hat. Andererseits stand Bakunin Proudhon näher: einmal, weil bei Marx er der Lernende war, während auf Proudhon er selbst einwirken konnte; zweitens zog ihn Proudhon durch die größere Unbestimmtheit und Systemlosigkeit seiner Ansichten an, was letzterem damals mit Bakunin gemein war, welcher ebenfalls einen Gärungsprozeß der Gedanken durchmachte, sowie durch sein skeptisches Verhalten zu den politischen Parteien und seine Negierung des Staates. Letzteres entsprach mehr der Stimmung Bakunins, des „Skythen“, des „Barbaren“, des Sprößlings eines in sozialpolitischer Hinsicht rückständigen Staates, und fiel mit seinem allgemeinen, unbestimmten revolutionären Drang zusammen nach Zerstörung, nach Rebellion, nach Protest überhaupt.

Als im Jahre 1847 Herzen nach Paris kam, zeigte sich bald, daß die beiden Freunde nicht auf den gleichen Ton gestimmt waren. Diesmal hatten die Rollen sich gewechselt: einst war es Herzen, den der politische Indifferentismus Bakunins entrüstete, jetzt machte ihm Bakunin, der viel weiter gegangen war, ähnliche Vorwürfe. Worte und abstrakte Interessen genügten ihm nicht; es dürstete nach Taten, nach praktischer Anwendung seiner Idee, Herzen dagegen war skeptischer gestimmt.

Während er sich den französischen Radikalen näherte und an einigen oppositionellen Zeitungen wie zum Beispiel der „Réforme“ mitarbeitete, schwärmte Bakunin zugleich für eine Revolution in Rußland. Da letztere damals eng mit dem Kampf für die Unabhängigkeit Polens verknüpft war, trat Bakunin mit den polnischen Emigranten in Verbindung. Am 29. November 1847 hielt Bakunin in Paris auf einem Bankett zur Jahresfeier des polnischen Aufstandes von 1830 eine Rede. In dieser Rede, welche das erste öffentliche Auftreten Bakunins war, wies er auf die Notwendigkeit einer Annäherung der polnischen und russischen Revolutionäre hin. Dieselbe schloß mit folgenden Worten: „Die Versöhnung Rußlands und Polens ist eine große Aufgabe und wert, daß man sich ihr ganz hingibt. Sie bedeutet die Befreiung von 60 Millionen Seelen, die Befreiung aller slawischen Völkerschaften, die unter fremdem Joche stöhnen; sie bedeutet endlich den Sturz, den endgültigen Sturz des Despotismus in Europa.“

In dieser Rede sehen wir Bakunin fast vollständig gefestigt. Hier finden wir seine Hoffnung auf die Bauern und auf die deklassierte Intelligenz ausgedrückt, seinen Glauben an die Unvermeidlichkeit einer nahen revolutionären Erschütterung, endlich den slawischen Charakter seiner revolutionären Hoffnungen. Dieser Charakter gab seiner ganzen Tätigkeit während der Revolutionsperiode von 1848 bis 1849 ihren besonderen Anstrich.

Wegen dieser Rede wies die französische Regierung auf Ersuchen des russischen Gesandten Kisselew Bakunin aus Frankreich aus. Abgesehen davon verbreitete Kisselew unterderhand das Gerücht, Bakunin sei Agent der russischen Gesandtschaft gewesen, welche infolge seiner Redseligkeit ihn habe entlassen müssen.8 Bakunin protestierte gegen diese Verleumdung; doch der Minister des Innern Duchatel, in der Pairskammer wegen des Vorganges interpelliert, begnügte sich mit nebelhaften Andeutungen, die nur dazu geeignet waren, der niederträchtigen Verleumdung den Charakter der Wahrscheinlichkeit zu verleihen. Dies war der ursprüngliche Quell der sinnlosen Anklagen, die später den unversöhnlichen Revolutionär so hartnäckig verfolgen sollten.

Bakunin fuhr nach Brüssel, Hier traf er mit dem berühmten polnischen Demokraten Lelewel zusammen und schwärmte mit ihm für die Gründung einer „slawischen Liga“. Auch Marx sah er hier, welcher schon früher (1845) aus Frankreich ausgewiesen worden war. Doch die Tätigkeit von Marx und seinen Kameraden stellte ihn nicht zufrieden. Schon damals gefielen ihm die Anstrengungen nicht, welche jene zur Entwicklung des Klassenbewußtseins der Arbeiter machten; ihm schien es, daß dies den Proletariern ihren revolutionären Geist raubt. Wenn wir weiter die Ansichten Bakunins über die Arbeiteraristokratie und die ungelernten Arbeiter kennen lernen werden, wird uns dies Verhalten nicht mehr verwundern. „Marx treibt hier dieselbe eitle Wirtschaft wie vorher, verdirbt die Arbeiter, indem er Räsoneure aus ihnen macht. Dieselbe theoretische Verrücktheit und unbefriedigte, mit sich unzufriedene Selbstzufriedenheit,“ schreibt er am 28. Dezember 1847 aus Brüssel an Annenkow. Und in seinem Briefe an Herwegh erklärt er die Ursachen dieser seiner Unzufriedenheit mit dem Zirkel der Genannten: „Die Deutschen aber, Handwerker, Bornstedt, Marx und Engels …, vor allem Marx, treiben hier ihr gewöhnliches Unheil. Eitelkeit, Gehässigkeit, Klatscherei, theoretischer Hochmut und praktische Kleinmütigkeit, Reflektieren auf Leben, Tun und Einfachheit und gänzliche Abwesenheit von Leben, Tun und Einfachheit — literarische und diskutierende Handwerker und ekliges Liebäugeln mit ihnen —, Feuerbach ist ein ‚Bourgeois‘ und das Wort ‚Bourgeois‘ zu einem bis zum Überdruß wiederholten Stichwort geworden — alle selbst aber vom Kopf bis zu den Füßen durch und durch kleinstädtische Bourgeois —, mit einem Wort: Lüge und Dummheit und Dummheit und Lüge. In dieser Gesellschaft ist keine Möglichkeit, einen freien, vollen Atemzug zu tun. Ich halte mich fern von ihnen und habe ganz entschieden erklärt, ich gehe in ihren kommunistischen Handwerkerverein nicht und will mit ihnen nichts zu tun haben.“

Die großen Ereignisse nahten, und im Leben Bakunins sollte sich eine neue, glänzende Seite eröffnen. Es begann das Fahr 1848.

Drittes Kapitel.
Bakunin im Jahre 1848.

Die Revolution vom 24. Februar öffnete Bakunin wieder die Türen Frankreichs. Er beeilte sich, nach Paris zurückzukehren, doch gelang es ihm nicht, hier lange zu verbleiben. Herzen, der nach seiner Rückkehr aus Italien Bakunin nicht mehr antraf, erzählt von seinem Pariser Aufenthalt folgendes:

„Die ersten Tage nach der Februarrevolution waren die besten im Leben Bakunins. Nach Paris zurückgekehrt, warf er sich kopfüber in den Strudel des Revolutionsmeeres. Er kam nicht aus den Kasernen der Montagnards heraus, übernachtete mit ihnen, aß mit ihnen und predigte, predigte immer den Kommunismus, die Nivellierung im Namen der Gleichheit, die Befreiung aller Slawen, die Vernichtung Österreichs, die Revolution in Permanenz, den Krieg bis zur Niedermetzelung des letzten Feindes. Der Präfekt der Barrikaden, der aus „der Unordnung Ordnung machte”, Caussidière, wußte nicht, wie er ihn wegschaffen sollte, und erfand mit Flocon die Idee, ihn zu den Slawen zu senden in der Überzeugung, daß er sich dort den Hals brechen werde. „Welch ein Mensch, welch ein Mensch!“ sagte Caussidière von Bakunin, „am ersten Tage der Revolution ist er einfach unbezahlbar, doch am nächsten muß man ihn füsilieren.“ Flocon soll nun nach einer Erzählung Golowins Bakunin einen französischen Paß eingehändigt, ihm 3000 Franken auf den Weg gegeben und beauftragt haben, Deutschland zu revolutionieren. Wie dem auch sei, Bakunin ging nach Deutschland, weil er von dort aus näher hatte, nah Rußland zu gehen, wenn dort eine revolutionäre Bewegung entstehen sollte.

Bakunin begriff sofort die reaktionäre Rolle, welche das Bürgertum im Jahre 1848 spielte, und setzte alle seine Hoffnungen auf das Proletariat und das revolutionäre Bauerntum und erwartete eine breite Bewegung in den slawischen Ländern.

In einem Brief an Annenkow aus Köln erwähnt er den bekannten Insurrektionsversuch der deutschen demokratischen Legion, welche in Frankreich unter Herweghs Teilnahme gebildet worden war. Marx und seine Freunde hatten sich entschieden gegen dieses Unternehmen erklärt und den Mitgliedern des Kommunistenbundes empfohlen, absolut keinen Anteil daran zu nehmen und einzeln nach Deutschland zu gehen, um dort zu versuchen, sich an die Spitze der lokalen Bewegung zu stellen. Aus diesem Anlaß griff Marx Herwegh heftig an, Bakunin dagegen trat als Verteidiger seines Freundes auf, was zu einem Bruche zwischen ihnen führte. Später (im Jahre 1871) schrieb Bakunin: „In dieser Frage hatten, wie ich jetzt glaube und es offenherzig bekenne, Marx und Engels recht: sie begriffen die allgemeine Lage besser. Doch griffen sie Herwegh mit jener Ungezwungenheit an, welche ihren Angriffen überhaupt eigen ist, und ich verteidigte in Köln den Abwesenden gegen sie. Daher unser Zerwürfnis.“ Die Sache bestand offenbar darin, daß Marx und Engels schon damals gegen unbedachtes Losschlagen ankämpften, während Bakunin infolge seiner Rebellennatur bereit war, sich kopfüber in jede beliebige Empörung zu stürzen. Über diesen Punkt gibt es eine interessante Anekdote. Irgendwo in Böhmen, scheint es, traf Bakunin einen Bauernhaufen, welcher ein Ritterschloß belagerte, es aber nicht einnehmen konnte; Bakunin sprang von seinem Wagen, ordnete die Bauern in Sturmkolonnen, gab ihnen die nötigen Anweisungen, und als er wieder in seinem Wagen saß, um weiterzufahren, brannte das Schloß an allen vier Ecken.

In Berlin blieb Bakunin nicht lange: dort beengte ihn die polizeiliche Überwachung. Am 23. April fuhr er von dort nach Leipzig, wo er Arnold Ruge wiedersah. Der letztere war gerade in einer Versammlung, wo die Kandidaten für das deutsche Vorparlament aufgestellt werden sollten; unter anderen war auch die Kandidatur Ruges in Aussicht genommen. Als man letzterem die Visitenkarte Bakunins überreichte, eilte er auf die Straße, wo er Bakunin in der Droschke fand, der ihn einlud, mit ihm zu fahren. „Ich protestierte,” erzählt Ruge, „und bat ihn, mir nur ein paar Stunden Zeit zu lassen. Ich sei fest überzeugt, wenn ich nicht dabei wäre, so würden sie mir übel mitspielen und ihren Kopf, mich von der Liste der Kandidaten zu streichen, doch noch durchsetzen.“ Darauf erwiderte Bakunin: „Komm, alter Freund, wir trinken eine Flasche Champagner und lassen sie wählen, wen sie wollen. Es wird ja doch nichts daraus — ein. Redeübungsverein mehr — weiter nichts.“9

Ruge ließ sich bereden, und seine Befürchtungen verwirklichten sich: seine Kandidatur wurde gestrichen.

Von Leipzig fuhr Bakunin am anderen Tag nach Breslau, wo er sein Hauptquartier in polnisch-russischen Sachen und in Sachen der slawischen Bewegung überhaupt aufschlagen wollte. In Rußland setzte er seine Hoffnungen hauptsächlich auf die deklassierte Intelligenz und speziell auf die Seminaristen („Popensöhne“). Während seines Breslauer Aufenthaltes knüpfte er zahlreiche Bekanntschaften an und versuchte die slawischen Demokraten, darunter Russen und Tschechen, um sich zu gruppieren. Das Mißglücken der polnischen Bewegungen in Posen und Krakau bewog ihn, für eine Zeitlang zu verschwinden. Wieder offen trat er auf dem slawischen Kongreß in Prag auf, wo er Ende Mai erschien.

Bekannt ist die reaktionäre Rolle, die die Slawen während der Revolution von 1848 spielten.10 Der Prager Kongreß war ebenfalls von der Reaktion inspiriert, welche mittels der rückständigen slawischen Völkerschaften die revolutionären Bestrebungen der Ungarn und der österreichischen Deutschen zu unterdrücken trachtete. Bakunin, der auf dem Kongreß die altgläubigen Großrussen aus Belaja Krinitza in der Bukowina vertrat, befand sich in einer zweideutigen Lage. Er mußte gegen die reaktionären Neigungen der kleinen slawischen Völkerschaften ankämpfen und besonders gegen den bewußten Konservatismus der Drahtzieher der slawischen Bewegung wie Palacky. Erstens strebte er danach, und es gelang ihm auch, dies mit Hilfe anderer Gesinnungsgenossen zu erreichen, den Kongreß aus einem rein österreichischen, nur separate, örtliche Aufgaben sich steckenden, in einen allgemein slawischen zu verwandeln; er hoffte ihm dadurch einen weniger ausschließlichen lokalen, sondern einen mehr allgemein menschlichen und allgemein revolutionären Charakter zu verleihen. Zweitens suchte er entgegen der Tendenz Palackys, welcher nach Frieden mit dem Wiener Hof trachtete, die Vertreter des Slawentums davon zu überzeugen, daß die Interessen der slawischen Demokratie mit den Interessen der deutschen Revolutionäre und der nach Unabhängigkeit strebenden Ungarn solidarisch seien. Doch teilte die Majorität des Kongresses die revolutionären Tendenzen Bakunins nicht. Der Kongreß nahm einige Beschlüsse an, die das Ziel hatten, Österreich in eine Föderation gleichberechtigter Nationalitäten zu verwandeln, sprach sich platonisch im Sinne der Beilegung des russisch-polnischen Streites sowie der Befreiung der Slawen aus türkischem Joche aus und beschloß endlich, ein Manifest an die europäischen Völker zu veröffentlichen, Bakunin nahm an der Ausarbeitung dieses Aufrufs teil, doch wurde derselbe in der durch Palacky gemilderten und umgearbeiteten Gestalt angenommen. Die Ansichten Bakunins fanden einen klareren Ausdruck in den vom Kongreß abgelehnten „Grundlagen einer neuen slawischer Politik“, deren Text noch im Sommer 1848 in polnischer, tschechischer und deutscher Übersetzung gedruckt wurde. Das Wesentliche dieses Projektes bestand in der Bildung einer freien slawischen Föderation, aufgebaut auf den allgemeinen Prinzipien der Gleichheit, Freiheit und brüderlichen Liebe, auf der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Stände und auf dem Recht eines jeden Slawen auf ein Grundstück im Bereich des allgemeinen slawischen Territoriums.

Die Arbeiten des Kongresses wurden nicht zu Ende geführt wegen des

unerwartet am 12. Juni ausgebrochenen Aufstandes. Nach einigen Angaben fielen die ersten Schüsse aus dem Hotel des Blauen Sterns, wo Bakunin mit einigen polnischen Mitgliedern des Kongresses wohnte. Einige tschechische Schriftsteller behaupten, daß der Aufstand durch eine „geheime Regierung“ geleitet worden sei, in welcher „Bakunin mit seinen Gesellen“ gesessen habe. Springer erzählt, daß unter den eifrigsten Anstiftern, die die Bevölkerung Prags zum Barrikadenbau aufgefordert, sich ein Mitglied des

Springer erzählt, daß unter den eifrigsten Anstiftern, die die Bevölkerung Prags zum Barrikadenbau aufgefordert, sich ein Mitglied des Kongresses, der Slowake Turansky befunden habe, welcher sich später als ein von der ungarischen Regierung zur Kompromittierung des Kongresses gesandter Agent provocateur entpuppte.

Jedenfalls besteht kein Zweifel, daß Bakunin tätigen Anteil an dem Widerstand gegen das Militär nahm, obgleich es zweifelhaft ist, daß er einer der Anstifter des Aufstandes, welcher ganz unerwartet ausbrach, war. Ein Tscheche, der den Idealen von 1848 treu geblieben war, schrieb im Jahre 1861 über ihn: „Er war sicher fast der einzige, der bei der allgemeinen Konfusion den Kopf nicht verlor und den festen Willen hatte, aus den von der Reaktion leichten Sinnes provozierten Unruhen eine wahre Revolution zu machen. Er zeigte sich überall, wo die größte Gefahr war, half, wo keiner Rat wußte, nahm teil an allen geheimen und öffentlichen Beratungen, trat von der Barrikade in die Beratungsstube, verhandelte mit den vom Lande nah Prag geschickten Deputationen und begab sich selbst auf das Land, um eine allgemeine Bewegung hervorzurufen, die der Handvoll in der Stadt zernierter Kämpfer zu Hilfe kommen sollte. Wir müßten zu sehr auf Einzelheiten eingehen, wenn wir erklären wollten, warum das alles vergebens war. Es genügt, daß Bakunin alles tat, was in seinen Kräften lag, und in wenigen Tagen solche Bedeutung und in solchem Maße das Vertrauen der revolutionären Partei gewann, daß man mit ihm auch später in beständiger Verbindung blieb.“

Zuletzt überzeugte sich Bakunin, daß in Böhmen die Bewegung augenblicklich keine Aussicht auf weitere Ausbreitung habe, besonders infolge der durch die kleinbürgerlichen Elemente erwiesenen Charakterlosigkeit: er fuhr nach Breslau und von dort wegen Polizeischikanen Mitte Juli „weiter nach Berlin.

Hier traf er mit Marx zusammen, mit welchem er eine Auseinandersetzung aus folgendem Anlaß hatte. Am 6. Juli 1848 war in der unter Marx’ Redaktion erscheinenden „Neuen Rheinischen Zeitung“ folgende Korrespondenz aus Paris zu lesen: „In bezug auf die Slawenpropaganda, versicherte man uns gestern, sei George Sand in den Besitz von Papieren gelangt, welche den von hier verbannten Russen M. Bakunin stark kompromittierten, indem sie ihn als ein Werkzeug oder als einen in jüngster Zeit gewonnenen Agenten Rußlands darstellten, den der größte Teil der Schuld der neuerdings verhafteten unglücklichen Polen traf. George Sand hat diese Papiere einigen ihrer Vertrauten gezeigt.“ Bakunin protestierte sofort gegen diese Verleumdung durch einen in der Breslauer „Allgemeinen Oderzeitung“ abgedruckten Brief, und zugleich wandte er sich durch Reichel an George Sand mit der Bitte, diese Sache aufzuklären. (Der Protest Bakunins wurde am 16. Juli in der „Neuen Rheinischen Zeitung” abgedruckt.) Die Antwort von George Sand wurde der „Neuen Rheinischen Zeitung“ von Bakunin durch Vermittlung des Polen Koscielsky übergeben mit der Forderung, sie entweder abzudrucken oder ihm Genugtuung durch die Waffen zu verschaffen. Dieser Brief ist vom 20. Juli 1848 datiert und wurde in der Rheinischen Zeitung von Marx am 3. August wiedergegeben. Er lautete: „Die von Ihrem Korrespondenten mitgeteilten Tatsachen sind gänzlich falsch, I besaß niemals den geringsten Beweis der von Ihnen über Bakunin verbreiteten Verleumdungen; daher hatte ich auch niemals die geringste Ursache, an der Lauterkeit seines Charakters und der Echtheit seiner Überzeugungen zu zweifeln. Ich wende mich an Ihre Ehre und Ihre Gewissenhaftigkeit mit der Bitte, diesen Brief sofort in Ihrer Zeitung abzudrucken.“ Marx begleitete diesen Brief mit folgendem Kommentar: „Wir erfüllten damit die Pflicht der Presse, öffentliche Charaktere streng zu überwachen, und gaben damit zugleich Herrn Bakunin Gelegenheit, einen Verdacht niederzuschlagen, der in Paris in gewissen Kreisen allerdings aufgeworfen wurde.“

Als sich Ende August die alten Bekannten in Berlin trafen, schlossen sie Frieden. Ihre Freunde veranlaßten sie sogar, sich zu umarmen.

Zur Erklärung dieses traurigen Vorfalles muß bemerkt werden, daß Bakunin der erste russische Revolutionär war, der offen an der europäischen revolutionären Bewegung teilnahm. Die europäische Demokratie, die damals Rußland als Schutzmauer der Reaktion ansah und sogar den Kreuzzug dagegen predigte, verhielt sich mit größtem Mißtrauen gegenüber den Russen, welche sie im allgemeinen als untertänige Diener ihrer Regierung kannte. Da man außerdem wußte, daß die russische Diplomatie die europäischen Umwälzungen in ihren eigenen Interessen auszunutzen strebte und sogar nicht abgeneigt war, durch ihre Agenten Unruhen zu provozieren, wie zum Beispiel unter den slawischen Völkerschaften, besonders in der Türkei, so konnten die europäischen Demokraten, für welche ein russischer Revolutionär etwas Neues war, diesen nicht sofort begreifen und sahen mit Mißtrauen und Ängstlichkeit auf ihn. Um so mehr, als in Bakunins Ausführungen panslawistische Noten zu hören waren, welche noch mehr Mißtrauen hervorrufen mußten, weil der Panslawismus ein Werkzeug der russischen Diplomatie war. Jetzt ist ein solches Mißverständnis natürlich unmöglich, doch in jener Zeit war es ziemlich natürlich und darf durchaus nicht bloß auf den bösen Willen der beteiligten Personen zurückgeführt werden.

Es muß hinzugefügt werden, daß am 13 Oktober 1848 die „Neue Rheinische Zeitung“ das preußische Ministerium energisch wegen der Ausweisung Bakunins angriff, und der Leitartikel der Nummer vom 14. Februar 1849, welcher gegen den Aufruf Bakunins an die Slawen gerichtet ist (darüber weiter unten), fängt direkt mit den Worten an: „Bakunin ist unser Freund, doch kann uns das nicht hindern, seine Broschüre einer strengen Kritik zu unterziehen.“

Am 22. September reiste Bakunin von Berlin nah Breslau, doch wurde er schon am 6. Oktober von dort ausgewiesen mit dem Verbot, nach Preußen zurückzukehren. Zuerst dachte er sich in Dresden niederzulassen, doch am 9. Oktober wurde er auch aus Sachsen ausgewiesen. Er fuhr über Leipzig nach Köthen und fand ein gefahrloses Unterkommen in Anhalt in einem Kreise mit ihm sympathisierender Persönlichkeiten. In seinen Briefen an Herwegh legte Bakunin seine Eindrücke von dem Gange der deutschen Ereignisse nieder. „Aber die Revolution ist da, lieber Freund,“ schreibt Bakunin im Sommer 1848, „überall da, wirkend, gärend, ich habe sie überall gefühlt und gefunden, und ich fürchte mich nicht vor der Reaktion.“ Und in dem bemerkenswerten Briefe vom 8. Dezember 1848 schreibt er: „Wenn die deutsche Nation bloß aus der großen, leider zu großen Masse der Spießbürger, der Bourgeoisie bestände, aus dem, was man heute das offizielle sichtbare Deutschland nennen könnte — wenn unter dieser offiziellen deutschen Nation es nicht Stadtproletarier, besonders aber eine große Bauernmasse gäbe, dann würde ich sagen müssen: es gibt keine deutsche Nation mehr, Deutschland wird erobert und zugrunde gerichtet werden. — Nur ein anarchistischer Bauernkrieg und die Verbitterung der Bourgeoisie durch Bankrotte kann Deutschland retten. Die demokratischen Führer fürchten einen solchen Bauernkrieg, wollen nicht die sogenannten „schlechten Leidenschaften“, das heißt soziale Bestrebungen im Volke wecken. „Schlechte Leidenschaften,“ meint aber Bakunin, „werden einen Bauernkrieg hervorbringen, und das freut mich, da ich die Anarchie nicht fürchte, sondern sie aus ganzer Seele wünsche, sie allein kann uns aus dieser verfluchten Lage, in der wir seit so lange vegetieren müssen, herausreißen.“

Anfang 1849 erschien der „Aufruf des russischen Patrioten Michael Bakunin, des Mitglieds des Slawenkongresses in Prag“, an die Slawen. Der Hauptinhalt dieses Aufrufs besteht in dem Versuch, die Slawen zu überreden, sich mit den deutschen und ungarischen Revolutionären zu verbinden, „beherzt und fröhlich die entgegengestreckten Hände der Demokraten aller Länder zu ergreifen und in engem Bündnis mit ihnen für ihre und unsere allgemeine Rettung, für ihre und unsere allgemeine Zukunft zu kämpfen“. Jetzt ist die ganze Welt, sagt Bakunin, in zwei Lager geteilt: in ein revolutionäres und ein konterrevolutionäres; die Slawen müssen in ihren eigenen, richtig aufgefaßten Interessen zu ersterem stoßen und zusammen mit ihm eine allgemeine Föderation der europäischen Republiken erstreben. Einerseits warnt er die Slawen vor der Politik der österreichischen Regierung, welche die Slawen gegen die Deutschen zu hetzen suche und umgekehrt, und macht ihnen den Vorwurf, die Wiener Demokratie, „unseren natürlichen Freund und Bundesgenossen“ im Stich gelassen und „sich ihrem ärgsten Feind, der dynastischen Politik und dem Despotismus angeschlossen zu haben“. Doch andererseits protestiert er gegen die „frechen Ansprüche des Frankfurter Parlamentes, dieser Zusammenrottung, die jetzt schon zum Spott von ganz Europa geworden ist und uns germanisieren wollte“, und gegen den Versuch der vier Millionen Ungarn, über acht Millionen Slawen zu herrschen. Da er begriff, daß eine der Hauptursachen, welche die Slawen ins reaktionäre Lager stieß, ihre nationale Unterdrückung durch die zivilisierteren (deutschen und ungarischen) Nationen war, versucht Bakunin, die nationalen Bestrebungen des Slawentums mit den revolutionären Aufgaben zu vereinigen und zu versöhnen. Er ermahnt die Slawen, die Stimme der Leidenschaft in sich zu ersticken, die alten Beleidigungen zu vergessen, sich mit den Ungarn gegen Windischgrätz zu vereinigen und dem deutsche Volke die Hand zu reichen, ihre Soldaten aus Italien zurückzurufen, denn es sei eine Schade, daß die Slawen, die selbst für ihre Unabhängigkeit kämpfen, bei der Unterjochung eines edlen Volkes mit Hand anlegen. Er rät ihnen, die schändliche Rolle einer Stütze der Reaktion aufzugeben und den Weg einer „erhabenen, hochherzigen Politik zu betreten“, die zugleich die dem Slawentum einzig nützliche sei. Der zentrale Punkt des Kampfes sei Österreich, und die Demokraten müßten die vollständige Zerstörung der österreichischen Monarchie wünschen.

Gegen diese Ansichten Bakunins ertönten Erwiderungen von zwei Seiten: aus dem Lager der slawischen Reaktionäre, aber auch aus dem Lager der deutschen Demokraten. In der „Neuen Rheinischen Zeitung“ vom 14. und 15. Februar 1849 erschien ein. großer Artikel von Marx: „Der demokratische Panslawismus“, welcher eine scharfe Kritik des Bakuninschen Aufrufs enthält. Marx wirft Bakunin eine abstrakt-sentimentale Fragestellung vor, eine Vernachlässigung der Analyse der realen Verhältnisse und den Versuch, eine solche Analyse durch abstraktes humanitäres Phrasendreschen zu ersetzen. „Man hat es durch schmerzliche Erfahrung gelernt, daß „die europäische Völkerverbrüderung“ nicht durch bloße Phrasen und fromme Wünsche zustande kommt, sondern nur durch gründliche Revolutionen und blutige Kämpfe; daß es sich nicht um eine Verbrüderung aller europäischen Völker unter einer republikanischen Fahne, sondern um die Allianz der revolutionären Völker gegen die konterrevolutionären handelt, eine Allianz, die nicht auf dem Papier, sondern nur auf dem Schlachtfeld zustande kommt.“ Für Bakunin ersetzt nach der Meinung von Marx das Wort „Freiheit“ alles. Von der Wirklichkeit ist überhaupt keine Rede, oder soweit sie etwa in Betracht kommt, wird sie als etwas absolut Verwerfliches, von „Despotenkongressen“ und „Diplomaten“ willkürlich Hergestelltes geschildert. Dieser schlechten Wirklichkeit gegenüber tritt der angebliche Volkswille mit seinem kategorischen Imperativ, mit der absoluten Forderung, der „Freiheit“ schlechtweg. Die reaktionäre Rolle der Slawen während der Revolution von 1848 hat alle erträumten Illusionen der demokratischen Panslawisten widerlegt. Die Bedrückung der Slawen durch die Deutschen und Ungarn hält Marx für eine reine Phrase. Mehr noch, er meint, daß außer den Polen, den Russen und vielleicht den türkischen Slawen kein einziges slawisches Volk eine Zukunft habe, aus dem einfachen Grund, weil allen diesen slawischen Völkerschaften die allgemeinsten historischen, geographischen, politischen und ökonomischen Bedingungen zu selbständigem Dasein fehlen. Marx geht sogar noch weiter und sucht zu beweisen, daß die Unterwerfung, sogar die gewaltsame, dieser rückständigen Völker durch die fortgeschrittenen Deutschen und Ungarn im Interesse der Zivilisation vor sich geht; dabei bringt er solche Beweise vor, durch die gewöhnlich die Kolonialpolitik gerechtfertigt wird!

Den sentimentalen Phrasen Bakunins stellt Marx entschiedene Drohungen mit schonungslosem Terror den reaktionären slawischen Nationalitäten gegenüber entgegen. „Kampf, unerbittlicher Kampf auf Leben und. Tod mit dem revolutionsverräterischen Slawentum; Vernichtungskampf und rücksichtsloser Terrorismus — nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution.“ Dies ist das legte Wort, mit welchem Marx die Slawen zu überreden und sie auf den richtigen Weg zu lenken hoffte (siehe „Aus dem literarischen Nachlas“, III, S. 246 bis 268).

Es ist, einleuchtend, daß in diesem Streite die Wahrheit eher auf seiten Bakunins war. Vor allem muß bemerkt werden, daß entgegen dem, was Marx von allen Panslawisten ohne Ausnahme behauptet, bei Bakunin die slawische Nationalität nicht auf dem ersten Plan stand und die Revolution verdrängte; im Gegenteil versuchte er die ganze Zeit die nationalen Bestrebungen der Slawen mit den revolutionären Aufgaben aufs engste zu verknüpfen und überhaupt die deutsche demokratische Revolution von der slawischen nicht zu trennen. Er übersah durchaus nicht die schmachvolle und zugleich unkluge Rolle der Slawen. Im Gegenteil: er unterstreicht sie in seinem Aufruf und sucht zugleich den Slawen ihre Widersinnigkeit vom Standpunkt ihrer nationalen Bestrebungen zu beweisen. „Welche Leute,“ ruft er aus, „haben Prag unter dem Kommando Windischgrätz’ beschossen? Waren es Ungarn? Waren es Deutsche? Waren es Italiener? Nein, es waren Slawen und nur Slawen: Tschechen, Polen, Slowaken!“ Er sucht die Slawen zu überreden, „überall die slawischen Soldaten aus dem österreichischen Dienste abzurufen, damit man sie nicht mehr zu Henkersdiensten benutzt, denn das gibt auch den anderen das Recht, als Henker ihnen gegenüber aufzutreten.“ Und natürlich, wenn man durch Argumente überhaupt auf den Gang der historischen Ereignisse einwirken könnte, so hätten die Ermahnungen Bakunins eher einen Einfluß ausüben können als die eigentümliche Geschichtsphilosophie von Marx, die den Slawen die Überzeugung beibringen wollte, sie hätten keine Zukunft, sie aufforderte, sich auf dem Altar der Zivilisation zu opfern, und ihnen mit schonungslosem Terrorismus drohte, wenn sie nicht gehorchen würden, Es ist klar, daß dieser Konflikt nur gegenseitige Mißverständnisse und Mißtrauen nähren konnte, wobei Marx Bakunin des Panslawismus verdächtigte, Bakunin ihn dagegen des Pangermanismus.

Später hat Bakunin die Grundlosigkeit seiner Hoffnungen auf die Slawen anerkannt. Und sich an seinen Streit mit Marx über die slawische Frage erinnernd, schrieb er 1871: „Im Jahre 1848 trennten sich unsere Meinungen, und ich muß sagen, daß er eher recht hatte. … Berauscht von der revolutionären Bewegung, habe ich mich viel mehr von den negativen als von den positiven Seiten dieser Revolution hinreißen lassen. … Doch in einem Punkte hatte ich recht gegen ihn. Als Slawe wollte ich die Befreiung der slawischen Rasse aus deutschem Joch. … Marx aber, als deutscher Patriot, wollte damals wie auch heute noch das Recht der Slawen auf Befreiung vom deutschen Joch nicht anerkennen und meinte damals wie heute, daß die Deutschen berufen sind, sie zu zivilisieren, das heißt freiwillig oder mit Gewalt zu germanisieren.“

Bakunin hoffte dennoch, die Revolution werde mit neuer Kraft in Deutschland auflodern, und es drängte ihn zur Tat. Er begrüßte warm den beginnenden Umschwung zu aktivem Hervortreten, zur Organisation der Kräfte und zur Bildung geheimer Gesellschaften und erwartete zusammen mit den deutschen Demokraten im Frühjahr 1849 einen entscheidenden Kampf. Im Januar 1849 fuhr er nach Leipzig, wo er geheim lebte. Er entfernte sich nicht von der slawischen Sache und unterhielt durch tschechische Studenten Verbindungen mit Prag, wohin er sogar einmal unter großer Gefahr sich begab. Man muß annehmen, daß er ein gleichzeitiges Losschlagen Sachsens und Böhmens vorbereitete, um der ungarischen Revolution zu Hilfe zu kommen, der die russische Intervention drohte. Im Falle des Mißlingens dieses Planes wollte man nach Polen marschieren und dort einen Aufstand organisieren, um so die Kräfte Rußlands zu paralysieren und der Einmischung in die ungarischen Sachen vorzubeugen.


Am Anfang des März begab sich Bakunin nach Dresden, wo er schon lange bekannt war und wo die revolutionäre Bewegung einen intensiveren Charakter trug. Hier fand er sich in die ihm verwandte Atmosphäre geheimer Beratungen, geheimer Korrespondenz und geheimer Emissäre versetzt. Diese ganze Arbeit wurde so geführt, um einen allgemeinen Aufstand auf den Mai vorzubereiten.

In dieser Zeit war die Luft gewitterschwanger. Freilich war der Lebensnerv der Revolution schon angefressen, besonders nach der Juniniederlage des Proletariats in Frankreich; doch hatte die Revolution nicht alle ihre Kräfte verloren und hoffte auf eine nahe Revanche. Die Gärung war allgemein in Frankreich, Italien, Deutschland und Ungarn. Jedenfalls war es damals gerade an der Zeit, einen letzten verzweifelten Versuch zu machen, die Revolution zu beleben. Als es sich herausstellte, daß die deutschen Regierungen nicht gewillt seien, die vom Frankfurter Parlament ausgearbeitete Konstitution anzuerkennen, beschlossen die Demokraten, diese Gelegenheit zu benutzen. Die Weigerung der sächsischen Regierung führte in Dresden zu ernsten Unruhen und zu Demonstrationen des Volkes, worauf die Soldaten auf die Menge schossen. Am 3. Mai wurden Barrikaden gebaut, und der König mußte fliehen. Eine provisorische Regierung bildete sich aus Heubner, Tzschirner und Karl Todt. Und im Laufe mehrerer Tage hatten die Revolutionäre die Stadt in ihrer Gewalt, Militärisches Oberhaupt war zuerst der Oberstleutnant Heintze, nachher der Setzer Stephan Born, ein früheres Mitglied des Kommunistenbundes und der Gründer der ersten alldeutschen „Arbeiterverbrüderung“. Doch der faktische Führer der revolutionären Streitkräfte war Bakunin.

Marx sagt in seiner „Revolution und Konterrevolution in Deutschland“, daß die Streitkräfte der Insurgenten sich hauptsächlich aus der Arbeiterbevölkerung der umliegenden Industriebezirke rekrutierten, und fügt hinzu: „Sie fanden einen fähigen und kaltblütigen Führer in dem russischen Flüchtling Michael Bakunin.“ (2. Auflage, S. 123.) Und in der Tat nahm Bakunin nach allgemeinem Zeugnis ernstesten Anteil an der Verteidigung der Stadt. Seine Riesengestalt und der Ruf eines russischen Revolutionärs lenkten die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn. Um seinen Namen bildeten sich Legenden: ihm wurden die entschiedensten Maßregeln, wie zum Beispiel der Befehl, Häuser zum Schutze der Stadt in Brand zu setzen, zugeschrieben. Unter anderem gab er vielleicht scherzend den Rat, die Madonna von Raffael auf die Stadtmauer zu stellen und den preußischen Befehlshaber davon zu benachrichtigen und ihn darauf aufmerksam zu machen, daß er, auf das Volk schießend, riskiere, das unersetzbare Kunstwerk zu zerstören. Die Deutschen seien nämlich „zu klassisch gebildet“, um sich zu erlauben, auf Raffael zu schießen! Als einmal die russischen Kameraden Bakunin fragten, ob er ebenso handeln würde, wenn es gälte, sich vor der russischen Armee zu verteidigen, antwortete er:

„O nein, Bruder! Der Deutsche ist ein zivilisierter Mensch — doch der Russe ein Wilder; er wird nicht nur auf Raffael schießen, sondern sogar auf die Mutter Gottes, wenn es die Vorgesetzten verlangen. Gegen russisches Militär mit seinen Kosaken. wäre es sündhaft, solche Mittel zu gebrauchen — das Volk würde man nicht retten, und Raffael würde man zugrunde richten!“

Bei der Verteidigung Dresdens bewies Bakunin eine bewunderungswürdige Kaltblütigkeit und eine unerschütterliche Festigkeit, welche aus seinem Namen für lange Zeit einen Schrecken der Philister machten. Am 8. Mai wandte er sich mit einer glühenden Rede an die Deputierten der Stadt, in der er ihnen die ganze Bedeutung der verzweifelten Verteidigung Dresdens klarlegte. Doch infolge des Schweigens der Provinz und wegen der schlechten Bewaffnung und des Mangels an Schießmaterial waren die Aufständischen schon am nächsten Tage gezwungen, vor dem Angriff der preußischen Truppen zurückzuweichen. Einige Tausend der Insurgenten verließen zusammen mit der provisorischen Regierung am 9. Mai die Stadt, um bei Freiburg mit dem Zuzug aus der Provinz zusammenzustoßen und auf offenem Felde den Anfang der revolutionären Bewegung im nördlichen Böhmen zu erwarten. Doch Prag rührte sich nicht: Bakunin wollte mit den Waffen in der Hand sterben. Er hätte sich retten und nach Köthen entrinnen können, doch er wollte die Sache nicht im stich lassen. Vergebens suchte er Born zu überreden, mit dem Reste der Streitkräfte nach Böhmen zu marschieren und zu versuchen, dort einen neuen Aufstand zu entfachen. Born verweigerte es und entließ sein Heer. Daraufhin wandten sich Heubner und Bakunin mit dem zu ihnen gestoßenen Richard Wagner nach Freiberg; doch mit Feindschaft von den dortigen Kleinbürgern empfangen, mußten sie ihren Plan ändern. Bakunin fuhr mit Heubner nach Chemnitz, wo sie einen neuen Stützpunkt für ihre Unternehmungen zu finden hofften. Von den schlaflosen Nächten ermattet, schliefen die Reisenden ein; die Bürger ergriffen die Schlafenden und lieferten sie am 10. Mai in Altenburg den preußischen Machthabern aus. (Wagner, der sich bei seiner Schwester verbarg, gelang es zu entkommen.) Am Abend brachte man sie ins Dresdener Gefängnis.

Der preußische Offizier, der Bakunin in Altenburg bewachte, erzählte, daß dieser auch in der Gefangenschaft sich nicht verändert habe und derselbe unerschütterliche und überzeugte Revolutionär geblieben sei. Unter anderem suchte er seinem Zerberus zu beweisen, daß in der Politik nur der Erfolg bestimme, was eine große Tat und was ein Verbrechen sei.

Viertes Kapitel.
Bakunin im Gefängnis und in der Verbannung.

Nun begannen die Leidensfahrten Bakunins. Im Dresdener Gefängnis saß er vom 10. bis zum 24. Mai; darauf überführte man ihn in die Neustadter Kavalleriekaserne, wo er bis zum 28. August verblieb. Vom August bis Mitte Juni 1850 saß er auf der Festung Königstein. Am 14. Januar 1850 wurde er durch das Kriegsgericht zum Tode verurteilt; dies Urteil wurde später in lebenslänglichen Kerker verwandelt.11

Darauf übergab die sächsische Regierung ihn der österreichischen, die ihn wegen des Aufstandes in Prag reklamierte und von ihm die Geheimnisse der slawischen Bewegung erfahren wollte. In Ketten brachte man ihn nach Prag und schloß ihn in das Prager Kloster des heiligen Georg ein. Bakunin weigerte sich, auf die Fragen der Spitzel12 zu antworten. Ohne etwas aus ihm herausbekommen zu haben, sandten ihn die österreichischen Machthaber im März 1851 in die Olmützer Kasematten.

Am 15. Mai 1851 fällte das österreichische Kriegsgericht das Todesurteil über Bakunin, doch auch dieses wurde zu lebenslänglichem Kerker gemildert. In Österreich ging man sehr streng mit Bakunin um: er saß an Händen und Füßen gefesselt, in Olmütz schmiedete man ihn sogar an die Wand. In dieser Lage verbrachte er ein halbes Jahr. Bald darauf lieferte ihn Österreich an die russische Regierung aus.

Auf der russischen Grenze befreite man Bakunin von den österreichischen Fesseln und legte ihm sofort vaterländische an, die bedeutend schwerer waren. Als Bakunin die ihn erwartenden russischen Soldaten erblickte, geriet er in helle Freude und rief aus: „In der Heimat ist auch das Sterben angenehm,“ worauf der Gendarmerieoffizier sich beeilte zu antworten: „Das sprechen ist verboten.“

Man erzählt, Nikolaus I. sei sehr stolz darauf gewesen, daß „sein Fähnrich außer Dienst in Europa der Diktator einer Stadt geworden. Nachdem er sein tapferes Benehmen in Dresden gelobt, ließ er ihn in das Alexeiravelin der Peter-Pauls-Festung einsperren. Dorthin sandte er den Grafen Orlow, der Bakunin verkündete, der Zar wünsche von ihm einen Bericht über die deutsche und slawische Bewegung. Bakunin kam nach einigem Nachdenken zu dem Entschluß, daß er vor einem Geschworenengericht unter der Bedingung vollster Öffentlichkeit wohl seine Rolle bis zu Ende würde spielen können, daß er aber zwischen vier Wänden und „in der Gewalt des Bären“ es nicht so ernst mit der Form zu nehmen brauche. Er erklärte sich einverstanden, indem er sich eine Frist von einem Monat ausbedang. In dieser Zeit schrieb er eine Art Beichte, in welcher er seinem „Beichtvater“ in vorsichtigen Ausdrücken zu verstehen gab, daß man keinen Verrat von ihm erwarten dürfe. „Mein Kaiser,“ heißt es, „sie wollen, daß ich Ihnen meine Beichte schreibe, gut, ich schreibe sie; doch ist es Ihnen bekannt, daß man in der Beichte nicht über fremde Sünden zu berichten hat. Nach meinem Schiffbruch ist mir nur ein Kleinod geblieben: die Ehre und das Bewußtsein, daß ich niemanden, der sich mir anvertraut, verraten habe, und daher werde ich niemanden mit Namen nennen.“ Weiter erzählt Bakunin dem Zaren mit einigen Auslassungen sein ganzes Leben im Ausland, „einige belehrende Bemerkungen über seine auswärtige und innere Politik hinzufügend“.

Dieser Brief, der die Aussichtslosigkeit der Lage des Autors zeigte, war sehr fest und kühn geschrieben. Als er ihn durchgelesen, meinte Nikolaus: „Bakunin ist ein kluger und guter Kerl, doch ein gefährlicher Mensch, man muß ihn unter Schloß und Riegel halten.“ Nach dieser Entscheidung saß Bakunin drei Jahre im Alexeiravelin.

In späterer Zeit sprach Bakunin ungern von seinem Brief an Nikolaus I. Nach seinen Worten war der Inhalt slawophil, und er maß darin Rußland zu große Bedeutung in der Sache der Befreiung der Slawen aus österreichischem Joche zu. Der Brief war unter dem Eindruck der Niederträchtigkeiten, die Bakunin in den österreichischen Kerkern erlitten hatte, geschrieben. „Es war ein großer Fehler von mir,“ meinte Bakunin, „und ich würde viel dafür geben, wenn dieser Brief nicht existierte.“

In der Peter-Pauls-Festung saß Bakunin bis 1854, und mit dem Anfang des Krimkriegs brachte man ihn auf die Schlüsselburger Festung, da Nikolaus Angst hatte, die englische Flotte könne den Gefangenen befreien. Wie man Bakunin „in seinem Heimatland“ behandelte, kann man daraus entnehmen, daß dieser Riese und eiserne Mensch bereit war, sich das Leben zu nehmen.

Doch sein mächtiger Geist überwand alle physischen und psychischen Entbehrungen, und er verließ die Festung in derselben Stimmung, in welcher er sie beschritten hatte. Um „den heiligen Geist der Rebellion“ in sich zu erhalten, wiederholte er sich in seiner Kammer die Legende von Prometheus, diesem titanischen Wohltäter der Menschheit, der von Zeus an den Felsen gekettet wurde; er schwärmte dafür, diese Legende in dramatischer Form darzustellen, und komponierte im Gefängnis eine sanfte und klagenreiche Melodie für den Chor der Okeaniden, welche dem Opfer der Rache des Olympiers Trost bringen.

Nach dem Tode Nikolaus’ begann Bakunin auf Befreiung zu hoffen, doch Alexander II. strich ihn eigenhändig aus der Liste der Amnestierten. Als einen Monat später die Mutter Bakunins ihn um Befreiung ihres Sohnes anflehte, antwortete er ihr: „Sachez, Madame, que tant que votre fils vivra, il ne pourra jamais être libre“ (sie sollen wissen, gnädige Frau, solange Ihr Sohn am Leben sein wird, kann er niemals frei sein). Bakunin verabredete darauf mit dem ihn besuchenden Bruder Alexei, noch einen Monat zu warten, nach dessen Ablauf jener ihm Gift zu bringen versprach. Doch nach Ablauf des verabredeten Monats wurde glücklicherweise Bakunin verkündet, er könne zwischen Festungshaft und Verbannung nach Sibirien wählen. Er wählte selbstverständlich das letztere.

Im März 1857 verließ er endlich Schlüsselburg, und darauf brachte man ihn nach Tomsk. Hier verbrachte er ungefähr zwei Jahre und wurde mit der Familie des verbannten Polen Xaver Kwjatkowsky bekannt, dessen Tochter Antonie er Ende 1858 heiratete. Damals schien es ihm, als teile seine Frau mit Herz und Kopf alle seine Bestrebungen; besonders entzückte ihn, daß sie eine „slawische Patriotin“ war.

Später sollte er sich in dieser Hinsicht stark enttäuscht fühlen und sich überzeugen, daß seine Lebensgefährtin sich absolut nicht für seine öffentliche Tätigkeit interessierte.

Der Generalgouverneur des westlichen Sibirien Hasford erwirkte ohne Wissen Bakunins die Erlaubnis für ihn, in den Zivildienst einzutreten, und zwar als Schreiber! Doch wollte Bakunin die Kokarde nicht anlegen, um seine „Reinheit und Unschuld" nicht zu verlieren. Er bat um Überführung in das östliche Sibirien, und mit Hilfe seines Verwandten, des Generalgouverneurs von Ostsibirien Murawjew erlangte er die Erlaubnis, nach Irkutsk überzusiedeln. Hier im März 1859 angekommen, trat er in den Dienst der unlängst gegründeten Amurgesellschaft, bereiste im nächsten Sommer das ganze Sabaikalgebiet, um im nächsten Jahr in den Dienst einer Goldgrubengesellschaft einzutreten. Hier ließ sich Bakunin mit der ihm eigenen Heißblütigkeit von Murawjew begeistern, der liberale Anwandlungen mit despotischen Eigenheiten verband und Bakunin besonders durch seine panslawistischen Träumereien anzog. Er gab Bakunin die Möglichkeit, frei aufzuatmen, und schwärmte im Gespräch mit ihm von einem Kriege gegen Österreich und der Gründung einer slawischen Föderation. Dafür machte der begeisterte Bakunin einen fortgeschrittenen Demokraten aus ihm und ernannte ihn in seiner Phantasie zum Generalissimus der zukünftigen „Landes“armee und beinahe zum Diktator. Die damalige Naivität Bakunins erhellt auch daraus, daß er Briefe an Katkow schrieb und ihm menschliche Gefühle für die polnische Nation einzuflößen suchte, obgleich der zukünftige Führer der russischen Reaktion zu jener Zeit seine wahre Physiognomie schon genügend offenbart hatte. Übrigens kann das Fehlgreifen Bakunins, der dem russischen Leben entfremdet war, auch dadurch erklärt werden, daß er sich Katkows aus jener Zeit erinnerte, als dieser noch liberal war. Katkow berichtet auch, Bakunin habe bei ihm Geld leihen wollen. Das ist möglich, denn Bakunin dachte damals schon an einen Fluchtversuch.

1860 bat die Mutter Bakunins den Kaiser um die Erlaubnis, daß ihr Sohn nach Rußland zurückkehren dürfe. Alexander II. antwortete, daß, solange er lebe, Bakunin nicht aus Sibirien befreit werden würde.

Das neue Leben, das Rußland infolge der Bauernfrage und des Krimkriegs durchströmte, sowie die Unmöglichkeit, nach Rußland zurückkehren zu dürfen, ließen in Bakunin den Entschluß reifen, zu entfliehen.

Am 17. Juni 1861 fuhr er aus Irkutsk ab, nachdem er von seiner Frau Abschied genommen und sich mit ihr verabredet hatte, daß sie auf das Gut zu seinen Verwandten fahren und von dort nach Eintreffen der Nachricht von seiner glücklichen Ankunft in Europa zu ihm nach London kommen sollte. Unter dem Vorwand, kommerzielle Geschäfte und einige ihm von der Administration aufgetragene wissenschaftliche Untersuchungen erledigen zu müssen, gelangte er bis zum Amur und kam per Schiff nach Nikolajewsk an der Mündung des Amur. Hier bestieg er unerkannt ein amerikanisches Schiff, das ihn am 24. August nach Jokohama brachte. Von hier fuhr er mit einem amerikanischen Klipper nach San Franzisko, wo er am 15. Oktober ankam. Nach sechs Tagen reiste er über Panama nach New York und von da nach London, wo er am 15. Dezember 1861 eintraf, nachdem er 30 000 Werst in sechs Monaten zurückgelegt hatte.

Fünftes Kapitel.
Die Jahre der Unruhe. Das Leben in London. Die die Anarchie vorbereitende Periode. Die Anteilnahme am polnischen Aufstand.

Bakunin hatte nicht deswegen so sehr nach Freiheit gestrebt, um mit verschränkten Armen dazusitzen und das Leben als kühler Beobachter oder kleinlicher Richter zu betrachten. Schon während der Reise, und zwar aus San Franzisko, schrieb er an Herzen und Ogarew: „Meine Freunde, mit ganzer Seele strebe ich zu Euch, und sobald ich angekommen, mache ich mich an die Arbeit: ich werde Euch in der polnisch-slawischen Sache dienen, welche meine idée fixe seit 1846 und meine praktische Spezialität in den Jahren 1848 und 1849 gewesen ist. Die Zerstörung, die vollständige Zerstörung der österreichischen Monarchie wird mein letztes Wort, nicht Tat, sein, denn das wäre zu ehrsüchtig; — nur um unserer großen Sache zu dienen, bin ich bereit, Trommler zu werden oder sogar Profos, und wenn es mir gelingen sollte, sie auch nur ein Haar breit vorwärts zu bringen, werde ich zufrieden sein. Und dann kommt die herrliche, freie slawische Föderation — der einzige Ausgang für Rußland, für die Ukraine, für Polen und überhaupt für alle slawischen Völkerschaften.“

Nach London gekommen, beeilte sich Bakunin, mit allen dort vorhandenen russischen und polnischen Revolutionären in Verbindung zu treten, und machte sich an seine Lieblingstätigkeit — das Organisieren. Herzen beschreibt seine damalige Betätigung in London folgendermaßen (doch muß man in Anbetracht des skeptischen und vorwiegend beschaulichen, nicht tätigen Charakters Herzens sowie seiner damaligen gemäßigten Stimmung seine Angaben mit Vorsicht entgegennehmen, wenn das allgemeine Bild vielleicht auch richtig ist):

„In London begann er vor allem die ‚Glocke13 zu revolutionieren und sagte gegen uns fast dasselbe, was er 1847 gegen Bjelinski gesagt hatte. Die Propaganda genügte nicht; er war durchaus für die Aktion, und dazu waren Komitees, Zentralstellen, ‚eingeweihte und halbeingeweihte Brüder‘ nötig, eine Organisation im Lande: eine slawische Organisation, eine polnische Organisation. Bakunin fand uns für allzu gemäßigt, unfähig, die damalige Lage zu benutzen; er meinte, wir liebten die entschiedenen Mittel zu wenig. Er verlor übrigens den Mut nicht und glaubte, daß er uns bald auf den richtigen Weg leiten werde. …

Er erholte sich nun mit seinen Slawen von seinem neunjährigen Schweigen und seiner Einsamkeit. Er disputierte, redete, gab Anweisungen, schrieb, beschloß, lenkte, organisierte und ermunterte Tag und Nacht. In den kurzen Momenten, die frei blieben, setzte er sich an seinen Schreibtisch und schrieb fünf, zehn, fünfzehn Briefe nach Semipalatinsk, Arad, Belgrad und Zarjgrad, nach Bessarabien, in die Moldau usw. Mitten im Schreiben warf er die Feder hin und begann irgend einen Dalmatiner zur Räson zu bringen; doch ohne die Rede zu beenden, griff er wieder zur Feder und fuhr fort zu schreiben; … alles an ihm ist gigantisch, seine Tätigkeit, sein Appetit, ja der ganze Mensch.“

Häufig schon ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß das Gefängnis und die Verbannung die Eigenschaft haben, die Menschen zu konservieren, Diese Beobachtung bestätigt sich auch bei Bakunin. Er kam aus Sibirien mit denselben Ansichten und Idealen an, mit welchen er 1849 in das Gefängnis ging. Wie Herzen bemerkt, existierte die europäische Reaktion für Bakunin nicht; diese Jahre waren ihm aus der Ferne, in aller Kürze und ganz abstrakt bekannt. Er hatte sie in Sibirien gelesen, wie er früher von den Punischen Kriegen und dem Fall des römischen Kaiserreiches gelesen hatte.

In London beeilte er sich, zwei Broschüren erscheinen zu lassen; in der ersten: „An die russischen, polnischen und alle slawischen Freunde“, welche gewissermaßen die Fortsetzung seines Aufrufs an die Slawen vom Jahre 1848 ist, legte er seine Ansichten über die äußere Politik dar, während er in der zweiten Broschüre: „Die Sache des Volkes. Romanow, Pugatschew oder Pestel“ die innere Politik Rußlands besprach. In diesen Broschüren spricht Bakunin seine Hoffnung auf eine nahe Revolution aus, welche zur Befreiung aller Slawen, unter anderen auch derjenigen, die unter deutschem Joche schmachten, führen werde. Er verlangt die Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden und die freie Organisation des ganzen Slawentums von unten nach oben, von der autonomen Gemeinde angefangen bis zur slawischen Föderation. Dabei verteidigt er aufs wärmste die Freiheit Polens.

Herzen hatte nicht umsonst der Ankunft Bakunins mit einiger Befürchtung entgegengesehen. Er hatte Angst, sich allzu eng mit der Sache der polnischen Revolution zu verbinden, da er vorausahnte, daß sein liberal-adliges Auditorium sich ablehnend zu einem Bündnis mit den polnischen „Rebellen“ verhalten und der „Glocke“ seine heuchlerischen Sympathien entziehen würde. Ganz anders sah Bakunin die Sache an. Er verhehlte sich ebenfalls die Unvollkommenheiten der polnischen Führer vom Standpunkt des folgerichtigen Demokratismus nicht, doch meinte er, daß die Tat, die Bewegung wichtiger sei als alles und daß nichts in geschichtlicher Beziehung so fruchtlos sei wie der hin und her erwägende Skeptizismus. Er war wieder jung geworden, er war in seinem Element; denn nach Herzens Worten liebte er nicht nur den Lärm des Aufstandes und des Klubs, des öffentlichen Platzes und der Barrikade, er liebte auch die vorbereitende Agitation und die erregte Atmosphäre der Konspirationen und Konsultationen, der schlaflosen Nächte usw. Er war wieder von der revolutionären Trunkenheit ergriffen und schritt mit Siebenmeilenstiefeln über Berge und Meere, über Jahre und Generationen hinweg. Hinter dem Aufstand in Warschau sah er seine ruhmvolle slawische Föderation, von welcher die Polen teils mit Schrecken, teils mit Ekel sprachen; er sah schon das rote Banner von „Land und Freiheit“ auf dem Ural und an der Wolga, in der Ukraine und auf dem Kaukasus wehen, am Ende sogar auf dem Winterpalast und der Peter-Pauls-Festung. Mit einem Worte: „Bakunin verweilte,“ nach den Worten Herzens, „nicht allzulange bei der Erwägung der Umstände, sondern blickte nur auf das entfernte Ziel und nahm den zweiten Monat der Schwangerschaft für den neunten.“

Bakunin übertrieb trotz der Gegenwirkung Herzens die damals in Rußland vorhandenen revolutionären Kräfte. Er glaubte an die Möglichkeit eines militärisch-bäurischen Aufstandes in Rußland, wie übrigens zum Teil auch Herzen daran glaubte und sogar die Regierung.

Bakunin fuhr nah Schweden erstens, um die Agentur für die Verbreitung der „Glocke“ und ihre Transportierung nach Rußland einzurichten, zweitens, um mit der Gesellschaft „Land und Freiheit“ Verbindungen anzuknüpfen, drittens, nachdem in Schweden alles eingerichtet, um nach Polen und Litauen zu gelangen. In Stockholm traf er die Vertreter aller Parteien und machte sich mit der schwedischen Gesellschaft bekannt. Von den Ministern und dem Bruder des Königs empfangen, überzeugte er sie alle, daß in Rußland ein Bauernaufstand unvermeidlich sei.

Die Führer des polnischen Aufstandes verhielten sich ohne jeden Enthusiasmus zu den Vorschlägen Bakunins, Auf seine mehrmaligen Anfragen, ob er nach Polen kommen solle, antworteten sie ihm anfangs gar nicht, später aber ließen sie ihm durch seine Freunde mitteilen, daß er in Polen nichts zu tun habe, er solle nur in London bleiben. Obgleich Bakunin in diesem Falle einen gewissen taktischen Opportunismus gezeigt, der beweist, daß er nicht immer jener abstrakte und geradlinige Theoretiker war, als den man ihn oft hingestellt, und daß er im entscheidenden Moment mit der Wirklichkeit rechnete; obgleich er zeitweilig seine kommunistischen Tendenzen zu unterstreichen aufhörte, die Vorurteile der polnischen Führer in Betracht ziehend, verhielten sich letztere dennoch mit dem größten Mißtrauen zu Bakunin und dem von ihm gepredigten Volksaufstand. In diesem Punkte erkannte Bakunin später die Richtigkeit von Herzens Skeptizismus an, bereute aber dennoch seine Tätigkeit nicht, denn, wie er sagte, „während einer solchen Katastrophe zu schweigen und nichts zu tun, hieße moralisch und politisch Selbstmord begehen. Außerdem ist die Unterjochung Polens unser Unglück, die Heldentaten des russischen Heeres in Polen sind unsere Entehrung. Daher taten wir nur unsere heilige Pflicht und werden so weiter handeln, ohne auf die Moskau-Petersburger oder auf die Warschauer Schreier zu hören.“

Im Oktober 1863 kehrte Bakunin nach London zurück, wo er von Herzen kühl empfangen wurde. Herzen war äußerst unzufrieden sowohl mit der Prahlerei Bakunins wie mit seiner Tätigkeit, die er für eitles Geschwätz hielt und als Folge seines „Revolutionsfiebers“ ansah. Besonders zürnte er Bakunin wegen seiner Liebe zu Konspirationen und der Unvorsichtigkeit in der Korrespondenz, welche zu einigen Verhaftungen in Rußland geführt hatte.

Bakunin fuhr nach Italien, von wo aus er im Jahre 1864 wieder eine Reise nach Schweden unternahm. Aus Schweden kehrte er über London zurück, wo er Marx sah, und über Paris, wo er mit Proudhon zum letztenmal sprach. Zuerst ließ er sich in Florenz nieder, doch im nächsten Jahre, 1865, siedelte er nach Neapel über, wo er bis 1867 blieb, um dann nach Genf zu gehen.

Sechstes Kapitel.
Die Tätigkeit Bakunins in Italien. Der Anarchismus. Seine Teilnahme an der Liga des Friedens und der Freiheit. Die Gründung der „Alliance“.

Daß Bakunin seine Schritte nach Italien lenkte, dafür gab es mehrere Gründe. Erstens zog ihn das milde italienische Klima an, das der Gesundheit seiner Frau förderlich war, sowie die Billigkeit des Lebens in Italien — ein Umstand, der bei der Beschränktheit seiner Mittel ziemlich wichtig war. Zweitens mußte er sich für Italien entscheiden, weil die anderen in Betracht kommenden Möglichkeiten momentan ausgeschlossen waren: in London hatte er nach der Abkühlung, die einerseits zwischen ihm und Herzen, andererseits zwischen Russen und Polen eingetreten war, eigentlich nichts zu tun; im bonapartistischen Frankreich, geschweige denn in Deutschland und Österreich, konnte er nicht leben, so blieb natürlich nur Italien übrig.

Doch zog ihn letzteres auch noch aus zwei wichtigeren Gründen an. Er hielt die Italiener für die natürlichen Bundesgenossen des Slawentums in seinem Kampfe gegen das deutsche Übergewicht und speziell gegen Österreich.

Außerdem zogen ihn seine aufrührerischen Bestrebungen nach Italien. Freilich hatten sich seine Ansichten im Anfang der sechziger Jahre noch nicht endgültig in anarchistische Formen gekleidet, doch waren alle Keime eines solchen anarchistischen Systems, wenn auch unvollendet, schon vorhanden. Und vom Standpunkt rebellischer Experimente schien Italien damals das gelobte Land zu sein. Der Kampf um die nationale Befreiung, die unaufhörlichen Feldzüge, Aufstände und inneren Unruhen, das Vorhandensein von einer Menge Garibaldischer und besonders Mazzinischer geheimer Gesellschaften, das Fehlen eines stabilen sozialpolitischen Gleichgewichtes, dies alles schien die günstigste Atmosphäre für allerhand Konspirationen und Rebellionsversuche zu sein. In der Mitte der sechziger Jahre war oder schien vielmehr Italien sich in demselben Zustand anarchischer Zerrüttung zu befinden, in welchen einige Jahre später Spanien eintrat, und Bakunin konnte meinen, daß es dort viel für ihn „zu tun gebe“. Jetzt ist es überflüssig, zu beweisen, daß er sich irrte und daß er die politische Krise, welche durch das Streben nach der Herstellung eines einheitlichen bürgerlichen Staates entstanden war, für die Ankündigung der sozialen Revolution nahm.

In Italien gab es noch andere, dem Rebellen Bakunin sympathische Elemente: einmal die deklassierte Intelligenz, die, einer bestimmten gesellschaftlichen Stellung entbehrend, stets bereit war, sich in allerlei Verschwörungen und revolutionäre Konspirationen einzulassen. Andererseits existierten im italienischen Volke jene Elemente, die als notwendiger Bestandteil in die sozialrevolutionären Ansichten Bakunins paßten: das Lumpenproletariat und das landarme oder ganz landlose Bauerntum, das, durch den beginnenden Kapitalismus bedrängt, in blinden Aufständen gegen das Ausbeutungssystem protestierte. „Vielleicht ist die soziale Revolution nirgends näher als in Italien,“ schrieb er später. „In Italien existiert nicht wie in vielen anderen Ländern Europas eine besondere Arbeiterschicht, die schon zum Teil privilegiert ist dank dem bedeutenden Verdienst, die sogar einigermaßen mit ihrer literarischen Bildung prahlt und so sehr von bürgerlichen Prinzipien, Bestrebungen und Eitelkeit erfüllt ist, daß die zu ihr gehörige Arbeiterschaft sich von der bürgerlichen Menge nur durch die ökonomische Lage, nicht durch Geistesbildung unterscheidet. … In Italien herrscht jenes Lumpenproletariat vor, von welchem Marx und Engels sowie die ganze Schule der Sozialdemokraten Deutschlands mit tiefster Verachtung spricht, aber ganz mit Unrecht, denn in ihm und nur in ihm, durchaus nicht in der obenerwähnten bürgerlichen Schicht der Arbeitermasse, ist die ganze Klugheit und die ganze Kraft der zukünftigen sozialen Revolution enthalten.“

Nach allem ist es klar, warum Bakunin sich in Italien niedergelassen hatte und dort Anhänger fand. Allmählich begannen im Prozeß der europäischen Arbeit die slawischen Interessen für ihn in den Hintergrund zu treten und den allgemeinen sozialrevolutionären Interessen Platz zu machen. Die slawische Föderation wird durch die internationale sozialistische Föderation ersetzt.

Die demokratischen Elemente Italiens empfingen den alten Freund Garibaldis und Mazzinis günstig. In Florenz gründete Bakunin seine erste geheime revolutionäre Bruderschaft. Unter anderem versuchte Bakunin während seines Florentiner Aufenthaltes mit Hilfe von Metschnikow die Polen zu unterstützen, welche damals eine maritime Expedition unter dem Kommando von Sbyschewsky organisierten. Für die Insurgenten war es wichtig, daß ein Schiff unter polnischer Flagge auf dem Mittelmeer erschien, denn dann hätte Europa Polen als kriegführende Partei anerkennen können. Doch kam diese Expedition nicht zustande.

Im nächsten Jahre siedelte Bakunin nach Neapel über. Nach der Auflösung der Florentiner Bruderschaft gab Bakunin seinen Gedanken über die Gründung einer geheimen internationalen revolutionären Organisation nicht auf; sie sollte anfänglich den Putschismus propagieren, dann aber, auch im Falle günstiger Umstände, aktive revolutionäre Schritte tun. Im Unterschied von der ersten geheimen Bruderschaft, die einen rein italienischen Charakter trug, gehörten der neuen Organisation zusammen mit Italienern auch Franzosen, Polen und später auch Vertreter anderer Nationalitäten an. So entstand der „Verein der sozialistischen Demokratie“, der später in „Verein sozialer Revolutionäre“ umbenannt wurde, da der Begriff „Sozialdemokrat“ in den Augen rechtgläubiger Anarchisten einen kompromittierenden Sinn erlangt hatte. Aus dieser geheimen Gesellschaft entwickelte sich jene „Alliance“, die später eine so traurige Rolle in der Geschichte der Internationale spielen sollte.

In Italien machten die Ansichten Bakunins einen großen Schritt vorwärts im Sinne von systematischer Geschlossenheit. Hier mußte er mit der Propaganda Mazzinis kämpfen, der die Schöpfung eines einheitlichen zentralisierten Staates erstrebte und seiner Propaganda einen religiösen Charakter gab unter der Losung: „Gott und Volk“. Im Kampfe mit dieser Tätigkeit Mazzinis bekamen die Ansichten Bakunins eine ausgeprägte Formulierung im Geiste des Atheismus und der Staatslosigkeit. Dieses ergab sich natürlicherweise aus dem Gesetz des Widerspruches. So förderten die Mazzinischen Tendenzen die endgültige Ausarbeitung der anarchistischen Ideen Bakunins. Andererseits unterlag Bakunin, wie es immer in dem Verhältnis zwischen Massen und Helden zu sein pflegt, indem er auf seine Anhänger einwirkte, selbst deren Einfluß und nahm in seine Weltanschauung die Bestrebungen der deklassierten Intelligenz und des elementaren Putschismus des italienischen Bauerntums und des Lumpenproletariats, das in Neapel bekanntlich den Hauptbestandteil der Arbeiterbevölkerung ausmacht, auf. Dasselbe passierte ihm auch später, als er sich den jurassischen Internationalisten näherte: indem er in anarchistischer Richtung auf sie einwirkte, kam er selbst unter den Einfluß ihrer Arbeiterorganisationen, dank welchem er seinem Anarchismus einen mehr proletarischen Charakter gab.

Späterhin sagte Bakunin vom ersten „Verein sozialer Revolutionäre“ folgendes: „Als Behauptung des Sozialismus gegenüber dem religiös-politischen Dogmatismus Mazzinis entstanden, nahm der Verein den Atheismus, die vollständige Verneinung jeder Autorität und Herrschaft, die Aufhebung des juridischen Rechtes, die Negierung der bürgerlichen Gesellschaft, die im Staate die freie Menschlichkeit ersetzt, das Kollektiveigentum an; er erklärte die Arbeit für die Grundlage der öffentlichen Organisation, welche in seinem Programm als freie Föderation von unten nach oben dargestellt war.“

In Neapel machte Bakunin die Bekanntschaft der Mitglieder des italienischen Parlamentes Fanelli und Frischia. Fanelli machte im Jahre 1868 im Auftrag Bakunins eine Agitationsreise nach Spanien, wo er die Grundlagen des spanischen Zweiges der anarchistischen Alliance schuf. Überhaupt sammelte sich in Neapel um Bakunin ein Kreis ergebener und heißblütiger Jugend, unter welcher wir Gambuzzi, Andrea Costa, Carlo Cafiero, Tucci, Rezzo, Malatesta, Nabruzzi, Caporusso, Zanardelli und andere finden. Diese Männer Haben zusammen mit anderen das Fundament der italienischen sozialistischen Bewegung gelegt und die ersten Sektionen der italienischen Internationale gegründet, sie waren so begeistert von dem Programm Bakunins, welches ihren eigenen Bestrebungen entsprach und in vielen Punkten mit dem kurz vorher veröffentlichten Testament des tragisch umgekommenen italienischen Revolutionärs Pisaccane zusammenfiel. Durch sie wurde Bakunin gewissermaßen zum Urheber des italienischen praktischen Sozialismus und durch Fanelli auch des spanischen. Übrigens blieben sie nicht alle den Ansichten ihres Meisters treu, und einige von ihnen gingen nach langer peinlicher Erfahrung in das sozialdemokratische Lager über, wie zum Beispiel Andrea Costa.

In Genf trat Bakunin auf dem ersten Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga (1867) als Mitglied der erwähnten internationalen revolutionären Brüderschaft auf. Die Freiheitsliga war der Versuch, gewissermaßen als Parallele zur internationalen Arbeiterassoziation eine internationale Organisation der bürgerlichen Demokratie zu gründen. Damals hatte Bakunin ungeachtet seiner anarchistischen Ansichten oder vielleicht gerade wegen der anarchistischen Verworrenheit seiner Ansichten die Hoffnung auf die bürgerliche Demokratie noch nicht völlig verloren. In Genf trat er sogar in das Zentralkomitee der Liga ein und bot der Internationale ein Bündnis mit der Liga an, mit der Bedingung, daß die Arbeiter das Bürgertum in seinem Kampfe um die politische Freiheit unterstützen sollten, während das letztere sich verpflichtete, dem Proletariat bei der Erkämpfung der ökonomischen Befreiung zu helfen. Noch kurioser ist es, daß er von der Liga die Anerkennung seines anarchistischen Programmes der allgemeinen Zerstörung und der sozialen Liquidation erlangen wollte.

Bakunin war inzwischen nach Genf übergesiedelt. Auf dem nächsten Kongreß der Friedensliga, welcher im Jahre 1868 in Bern stattfand, beantragte er mit einer Gruppe von Gesinnungsgenossen die Annahme eines anarchistischen Programmes, welches die Zerstörung aller Staaten bezweckte, um auf ihren Ruinen eine Föderation freier produktiver Assoziationen aller Länder zu errichten. Von den 140 Mitgliedern des Kongresses sprachen sich nur 30 für sein anarcho-kollektivistisches Programm aus, darunter der Franzose Elisée Reclus (der bekannte Geograph), Aristide Rey, Viktor Jaclard, die Italiener Fanelli und Frischia, weiter Mroczkowsky, Nikolai Shukowsky, Johann Philipp Becker, der Freund von Marx und spätere heftige Gegner Bakunins, und andere. Bakunin überzeugte sich davon, daß er in der Friedensliga nichts mehr zu suchen habe: „Das Werkzeug wurde für untauglich befunden und mußte weggeworfen werden; es handelte sich nur darum, ein anderes zu finden.“

Als ein solches anderes „Werkzeug“ stellte sich naturgemäß die „Internationale Arbeiterassoziation“ dar, deren Mitglied Bakunin seit dem 1. Juni 1868 war. Er schlug seinen Anhängern aus der Friedensliga und zum Teil aus der früheren internationalen Brüderschaft vor, in die Internationale einzutreten und dabei den früheren engen Zusammenhang beizubehalten und ihre geheime Alliance sozialer Revolutionäre zu propagieren. Es wurde aber zuletzt beschlossen, einen offenen internationalen Verein sozialer Revolutionäre zu gründen und ihn als solchen ganz an die Internationale anzuschließen, deren Programm für die Mitglieder des neuen Vereins obligatorisch anerkannt wurde.

Doch außer diesem allgemeinen Programm arbeitete der Verein ein besonderes Programm mit anarchistischer Färbung aus. Als Mittelpunkt der Alliance, deren Programm von Bakunin geschrieben war, wurde Genf gewählt, wo das Zentralkomitee des Vereins, das aus den Genfern Perron, Brosset, Guétat und Duval sowie aus Johann Philipp Becker, Bakunin und Zagórski bestand, sich aufhielt. Innerhalb der öffentlichen Alliance wurde eine geheime internationale Brüderschaft gegründet, die aus den Gründern des Vereins bestand, und letztere sollen Bakunin nach den Worten seiner Gegner mit diktatorischen Vollmachten versehen haben.14 Auf diese Weise erhielt der Verein, wenigstens dem Gedanken der Gründer nach, die Form einer hierarchischen Organisation, an deren Spitze die „internationalen Brüder“ standen: in die Zahl der letzteren wurden nur solche Personen aufgenommen, „welche das ganze Programm erfaßt mit all seinen theoretischen und praktischen Folgen, und die mit Klugheit, Energie, Ehrlichkeit und Konspirationsfähigkeit auch noch revolutionäre Leidenschaft vereinigen, die den Teufel im Leibe haben“.15 Darauf kamen die „nationalen Brüder“, die den „internationalen“ unterstellt waren, aber nicht einmal von dem Vorhandensein jener internationalen geheimen Organisation etwas wußten; endlich die halbgeheime, halboffene Organisation des „Internationalen Vereins der sozialen Demokratie“, in deren Reihen die offene Genfer Sektion als „ständige Delegation des zuständigen Zentralkomitees“ figurierte, Die Mitglieder der Alliance sollten in die Arbeitervereine und Sektionen der Internationale eindringen und sie zum allgemeinen Ziel des Vereins — der sozialen Liquidation und der Zerstörung des Staates — hinleiten.

Obgleich die Alliance sofort heftige Gegner fand, sowohl unter den bürgerlichen Demokraten als auch unter den Mitgliedern der Internationale, waren ihre ersten organisatorischen Schritte ziemlich glücklich. Es gelang ihr, in Frankreich und der französischen Schweiz Verbindungen anzuknüpfen, eine ganze Reihe von Sektionen sozialrevolutionärer Richtung in Italien und besonders in Spanien, wo früher gar keine Sektionen der Internationale existierten, zu gründen; Fanelli, der im Auftrag der Alliance dorthin gefahren war, bildete eine ganze Reihe von Sektionen in Madrid, Barcelona usw. mit dem Programm der Alliance.

Nachdem sie sich organisiert, wandte sich die Alliance, um die Formalität zu wahren, durch das Mitglied des Zentralbureaus J. Ph. Becker im Dezember 1868 an den Generalrat mit der Bitte, sie in die Internationale aufzunehmen, und äußerte dabei den Wunsch, ihre besondere Organisation und das Programm beibehalten zu dürfen, unter anderem auch das Recht, selbständig Sektionen in die Internationale aufzunehmen, auf den internationalen Kongressen der Internationale ihre eigenen Kongresse in besonderen Lokalen abzuhalten usw. Der Generalrat, der in dem neuen Verein einen gefährlichen Feind vorausahnte, welcher die Elemente der Auflösung in die Internationale tragen würde, besonders im Falle der Beibehaltung einer Sonderexistenz, lehnte diese Bitte ab. Viele Mitglieder der Alliance, unter diesen (wenn man Bakunin glauben soll) der alte Becker, waren darüber entrüstet und forderten die Auflösung der Beziehungen zum Generalrat. Doch Bakunin und Perron erkannten dessen Motive als berechtigt an, und auf ihren Antrag benachrichtigte die Alliance den Generalrat, daß sie beschlossen, ihre Organisation aufzulösen, und bereit sei, ihre Sektionen in Sektionen der Internationale zu verwandeln unter der Bedingung der Beibehaltung ihres theoretischen Programmes. Das letztere schätzten sie sehr hoch, da sie es für viel bestimmter in sozialrevolutionärem Sinne hielten als das Programm der Internationale; besonders teuer war ihnen ihr anarchistischer, staatsfeindlicher, antipolitischer Charakter. Der Generalrat wich einer Bewertung des Programmes aus und machte nur auf die Notwendigkeit der Änderung des Punktes, der von der „Gleichmachung der Klassen“ spricht, aufmerksam; man müsse von der „Aufhebung der Klassen“ reden, denn die erste Formel erwecke den Schein, als wolle sie deren Erhaltung zulassen. (Mit dieser Verbesserung erklärte sich die Alliance einverstanden und änderte ihr Programm in diesem Sinne.) Zugleich verstand sich der Generalrat für die Zulassung der einzelnen Sektionen der aufgelösten Alliance in die Internationale unter den allgemeinen Bedingungen.

In jener Zeit, als diese Verhandlungen gepflogen wurden, machte Bakunin aufs neue einen Versuch, in freundschaftliche Beziehungen zu Marx zu treten. Während seines ersten Aufenthaltes in London im Jahre 1862 kam Bakunin mit Marx nicht zusammen, da Herzen ihn auf Marx' angebliche Anteilnahme an den gegen ihn während seiner Festungshaft gerichteten Verleumdungen aufmerksam machte. In Wirklichkeit war hier ein Mißverständnis vorgefallen. Im Jahre 1853 eröffnete ein gewisser F. M. in dem damals radikalen „Morning Advertiser“ einen Feldzug gegen Bakunin, in welchem er ihn als Agent der russischen Regierung hinstellte. Gegen diese ungereimten Insinuationen protestierten nicht nur Herzen und Mazzini, sondern auch Karl Marx. Letzterer wies in seinem Brief an die Redaktion der Zeitung darauf hin, daß der Autor der verleumderischen Artikel von seinem Standpunkt aus ganz richtig folgere; da seiner Meinung nach alle Revolutionen in Europa der russischen Regierung in die Hände spielen, so kann man hieraus leicht zum Schlusse kommen, daß alle Führer der revolutionären Bewegung in Europa mehr oder weniger Agenten der russischen Regierung seien; gegen diese Manie sei es unmöglich anzukämpfen. Und Marx war vollständig im Recht, als er bei seiner Zusammenkunft mit Bakunin im Jahre 1864 ihn versicherte, daß er niemals an den gegen den russischen Revolutionär gerichteten Verleumdungen Anteil genommen. Jetzt ist es festgestellt, daß der Autor jener Artikel der Engländer Francis Marx war: dieses Zusammenfallen der Familiennamen konnte leicht zu unliebsamen Verwechslungen in den Emigrantenkreisen Anlaß geben.16 In seiner „Konfidentiellen Mitteilung“, welche im März 1870 durch Kugelmanns Vermittlung den Führern der deutschen Sozialdemokraten zugeschickt wurde, erzählt Marx, daß er während dieses Zusammentreffens mit Bakunin letzteren als Mitglied in die Internationale aufgenommen habe, wobei Bakunin ihm versprochen, nach Kräften im Interesse der Assoziation zu arbeiten. Aus Italien habe Bakunin an Marx einen begeisterten Brief geschrieben, die ihm zugesandten Statuten der Internationale und die Inauguraladresse betreffend, doch darauf sich in Schweigen gehüllt und nichts für die Internationale getan, bis er 1867 in der Schweiz erschienen und in die Friedensliga eingetreten sei. Es ist leiht möglich, daß hier das alte Mißtrauen und die Antipathie Bakunins gegen Marx wirkten und ihn veranlaßten, eine selbständige Arbeit außerhalb der Internationale, die unter Marx’ Leitung stand, zu suchen. Doch zugleich kann man jetzt aus der historischen Perspektive heraus erkennen, daß Bakunin auch in diesen Jahren zum Nutzen und im Geiste der Internationale gewirkt, indem er dem Sozaialismus neue Elemente aus den romanischen Ländern zuführte. Jetzt, von der bürgerlichen Demokratie enttäuscht, beschloß Bakunin, in die Internationale einzutreten, und wandte sich am 22. Dezember 1868 mit folgendem Brief an Marx.

Dieser Brief ist in der Neuen Zeit vom 6. Oktober 1900 abgedruckt. Er lautet unter anderem:

Mein alter Freund! Serno17 hat mir jenen Teil Deines Briefes mitgeteilt, der mich angeht. Du fragst ihn, ob ich nach wie vor Dein Freund bleibe. Ja, mehr als je, lieber Marx, denn besser als je verstehe ich jetzt, wie sehr Du recht hast, wenn Du die Heerstraße der ökonomischen Revolution verfolgst und uns einlädtst, sie zu betreten, und wenn Du jene unter uns herabsetzest, die sich in den Seitenpfaden teils nationaler, teils ausschließlich politischer Unternehmungen verirren. Ich tue jetzt dasselbe, was Du seit mehr als zwanzig Jahren tust. — Seit dem feierlichen und öffentlichen Abschied, den ich den Bourgeois des Berner Kongresses gegeben, kenne ich keine andere Gesellschaft mehr, kein anderes Milieu als die Welt der Arbeiter. — Mein Vaterland ist von jetzt an: die „Internationale“, zu deren hervorragendsten Gründern Du gehörst. Du siehst, lieber Freund, daß ich Dein Schüler bin — und ich hin stolz, es zu sein. — Das genügt, Dir meine Stellung und meine persönlichen Gesinnungen zu erklären.

(Weiter spricht Bakunin von dem Ausdruck: „die Gleichmachung der Klassen und Individuen“, berichtet über die Absendung seiner Berner Reden und erzählt von dem Bruch mit Herzen im Jahre 1863.) Dann fährt er fort:

Ich schicke Dir auch das Programm der Alliance, die wir mit Becker und vielen italienischen, polnischen und französischen Freunden gegründet haben. Über diesen Gegenstand hätten wir viel miteinander zu reden. — Nächstens werde ich Dir die Kopie eines langen Briefes — fast eine Broschüre senden, den ich darüber an Freund César de Paepe geschrieben habe.

Grüße Engels von mir wenn er nicht ein zweites Mal gestorben ist — Du weißt, daß man ihn schon einmal begraben hat — und bitte, gib ihm ein Exemplar meiner Reden, ebenso den Herren Eccarius und Jung.

Dein ergebener M. Bakunin.

Ich bitte Dich, mich Mad. Marx in Erinnerung zu bringen.

Doch war es nicht leiht, Marx durch Worte zu bestechen. Sofort nach Empfang des Briefes von Bakunin beauftragte er Jung, de Paepe von dem Beschluß des Generalrats, die Aufnahme der Alliance als besondere Organisation in die Internationale zu verweigern, Mitteilung zu machen (dies war noch während des ersten Stadiums der Unterhandlungen). Die Folge zeigte, daß das Mißtrauen von Marx berechtigt war.

Siebentes Kapitel.
Bakunin in der Internationale.

Die Alliance war nur in Worten aufgelöst. In Wirklichkeit existierte sie fort, nur ihre Form und ihren Bestand ändernd. Freilich bis 1873, als nach dem Bruche auf dem Haager Kongreß sich eine antiautoritäre Internationale bildete, kam die Alliance nicht dazu, sich zu einer ständigen und festen internationalen Organisation auszubilden; doch daß sie fortwährend als geheime Organisation innerhalb der Arbeiterassoziation existierte, dabei ihre eigenen Ziele verfolgend und zur Erreichung dieser Ziele die einzelnen nationalen Föderationen und Sektionen der Arbeiterassoziation leitend — und dies alles ohne Wissen des Generalrats —, das unterliegt keinem Zweifel. Die Mehrzahl der italienischen Sektionen, fast alle spanischen, dann die von Bakunin herangezogenen Sektionen der Juraföderation, einige französische Sektionen, die später gegründete slawische Sektion stellten wenn nicht als Ganzes, so in der Person ihrer aktivsten Mitglieder und Führer in dem Schoße der Internationale einen geheimen Bund dar, der, von Bakunin und seinen nächsten Freunden beeinflußt, einen verschwörerischen und putschistischen Charakter trug. Einige der Mitglieder dieser Organisation, wie zum Beispiel James Guillaume18 und andere, hielten sich nicht für Mitglieder der früheren Alliance, sondern eines anderen Bundes, der keinen bestimmten Namen und keine Statuten hatte; doch wird dadurch an der Sache nichts geändert, und Guillaume spielt mit Worten, wenn er zu beweisen sucht, daß das Vorhandensein der Alliance nach 1868 eine bloße Erfindung der Marxisten sei. Bakunin selbst fuhr hartnäckig fort, diesen geheimen Bund „Alliance“ zu nennen, und faßte ihn bis zu Ende als Fortsetzung seiner alten internationalen Brüderschaft auf.

Die belgischen und jurassischen Freunde suchten Bakunin auf das Unpassende einer solchen Gründung eines geheimen Bundes innerhalb der Internationale aufmerksam zu machen. Das Zentralbureau der Alliance erklärte, nachdem es die Mitglieder dieser Organisation befragt, dieselbe als aufgelöst, und die lokale Genfer zentrale Sektion der Alliance verwandelte sich in eine einfache Sektion der Internationale und wurde als solche von dem Generalrat im Juli 1869 zugelassen. Doch gleich darauf bildete sich eine neue geheime Organisation, zu der neue Mitglieder hinzugezogen wurden, darunter Jurassier, Spanier, Italiener und Franzosen, wie zum Beispiel Varlin. Nicht alle waren gleichmäßig in die Ziele, welche sich die Organisatoren stellten, eingeweiht. Es ist sehr wohl möglich, daß am Anfang letztere nicht daran dachten, die Zerstörung der Internationale zu erstreben, und sich nur selbständige, vom Generalrat unabhängige aktive Schritte im Falle günstiger Umstände zum Ziel setzten. Doch die Konspiration hat ihre Logik, und die Konspiration innerhalb der Internationale mußte früher oder später zu ihrem Zerfall führen. Übrigens war die Spaltung überhaupt unausbleiblich wegen der Buntscheckigkeit der in die Internationale eintretenden Elemente — von gemäßigten Kooperativ-Reformisten angefangen bis zu Blanquisten und Anarchisten — wegen der Neuheit und der Unerfahrenheit der Arbeiterbewegung, wegen des raschen Wachstums der letzteren und den dadurch hervorgerufenen weitgehenden Hoffnungen, für deren sofortige Realisierung die objektiven Bedingungen noch nicht vorhanden waren. Daß gerade die Schweiz der Mittelpunkt der Opposition gegen den marxistischen Generalrat wurde, das erklärt sich erstens durch den kleinbürgerlichen Charakter dieses Landes, auf dessen Boden beide anti-marxistische Strömungen erwachsen sind, sowohl die gemäßigt-kleinbürgerliche, als auch die anarcho-putschistische, zweitens durch den Einfluß Bakunins und der mit ihm sympathisierenden Emigranten, sowohl der russischen als auch der spanischen, italienischen und französischen (besonders nach dem Falle der Kommune).

Bakunins Propaganda fand Nährboden auch in den Streitigkeiten der Schweizer Mitglieder der Internationale. Die extremeren Jurassier griffen den Opportunismus der Genfer und der Coulleristen an. Coullery, ein Arzt aus dem Berner Jura, ein alter Prediger demokratischer und humanitärer Ideen in der romanischen Schweiz, hatte einige Sektionen in den Schweizer Städten gegründet. Ein Mensch von im Grunde genommen bürgerlicher Weltanschauung, mit dem Hange zu niedriger Politikasterei, welcher für kleine Länder mit dem in ihnen herrschenden Kirchturmsgeist charakteristisch ist, trug er viel Zwietracht in die Bewegung und fügte der sozialistischen Sache großen Schaden zu. Bald mit den Neuchâteler monarchistischen Liberalen in Wahlbündnisse tretend, bald die Arbeiter in das Schlepptau der radikaltuenden Politikaster einspannend, trug er zuletzt dazu bei, daß unter den Arbeitern politischer Indifferentismus und Widerwille gegen die Anteilnahme an den Wahlen sich entwickelten. Die Bedingungen des Wahlkampfes waren in der damaligen Schweiz überhaupt ungünstig. In Genf existierte das System der Wahllisten, und die qualifizierten Arbeiter der sogenannten Genfer „Fabrik“ (Uhrenproduktion), die wahlberechtigt waren und überhaupt zum Opportunismus neigten, schon ihrer Lage nach, traten in Wahlverträge mit den bürgerlichen Radikalen ein: auf diese Weise hofften sie ihre Kandidaten durchzubringen, da sie es mit eigenen Kräften nicht vermochten, weil die Mehrzahl der Schweizer Arbeiter aus Ausländern bestand (Italienern, Deutschen, Savoyarden) und diese nicht wahlberechtigt waren. Die letzteren, hauptsächlich Bauarbeiter und Taglöhner, waren naturgemäß radikaler gestimmt, wozu noch die damals bei ihnen häufigen Streiks beitrugen, welche den Geist des Ingrimmes und des Protestes in ihnen wachriefen. Sie konnten selbstverständlich den prinzipiellen Konzessionen, die von den am Wahlkampf beteiligten Arbeitern den bürgerlichen Wählern und den Führern der lokalen politischen Cliquen gemacht wurden, nicht zustimmen, um so mehr, als sie selbst vom Wahlkampf abseits standen.

Daß Bakunin den letzteren beistimmen mußte, ist selbstverständlich. Mehr noch, er und seine Anhänger hofften anfangs sogar beim Generalrat und besonders bei Marx in ihrem Kampfe gegen die Schweizer Opportunisten Unterstützung zu finden. Interessant ist, daß Bakunin auf dem Baseler Kongreß (1869) für die Erweiterung der Vollmachten des Generalrats stimmte; da er die Stellung Marxens zum politischen Opportunismus kannte, hoffte er, in ihm einen Bundesgenossen in dieser Frage zu finden. Doch leider vertauschten sich die Karten bald: da die Gegner des kleinbürgerlichen Opportunismus der schweizerischen qualifizierten Arbeiter zugleich mit anarchistischen Ansichten auftraten und da an ihrer Spitze Bakunin sich befand, gegen welchen Marx schon längst ein Vorurteil hatte und den er jetzt im Verdacht hatte, die Hand auf die Internationale legen zu wollen, um dieselbe in ein Werkzeug für seine sektiererischen Experimente im Geiste des Putschismus zu verwandeln, so entschloß er sich nach einigem Zaudern, nicht die Extremen gegen die Opportunisten zu unterstützen, sondern umgekehrt die letzteren für den Kampf gegen die herannahende anarchistische Gefahr zu benutzen.

Dagegen fand Bakunin tätige Unterstützung seitens der jurassischen Internationalisten, die sich hauptsächlich aus Arbeitern der Uhrenindustrie rekrutierten. Die Vertreter der Hausindustrie, schon vom Kapital unterjocht, doch in starkem Maße noch den Charakter des handwerklichen Kleinbetriebes an sich tragend, waren der anarchistischen Propaganda leicht zugänglich, um so mehr, als auch sie einige Versuche von Wahlbündnissen mit bürgerlichen Parteien gemacht und, wie es gewöhnlich geht, aufs schamloseste betrogen worden waren. In ihren Bergen versteckt und in kleinen Nestern unter bäuerlichen und bleinbürgerlichen Massen zerstreut, waren sie unfähig, mit eigenen Kräften auf politischem Gebiet ihre Klasseninteressen zu verteidigen oder wenigstens einen ernstlichen Einfluß auf die Politik des Landes oder auch der Kantone auszuüben; daher neigten sie leicht zu den Ideen der politischen Abstinenz. Proudhon mit seiner Lehre von der Lösung der sozialen Frage unabhängig vom Staat entsprach vollständig den Bestrebungen dieser Hausindustriellen. Noch größeren Enthusiasmus brachten sie der Anschauung Bakunins von der Zerstörung des Staates, von der Auflösung der politischen Organisation in der ökonomischen und der Errichtung freier föderierter Assoziationen entgegen.

Wirkliche Anhänger von Marx, Sozialdemokraten im heutigen Sinne des Wortes, gab es eigentlich damals in der Schweiz fast gar nicht, einzelne Personen vielleicht ausgenommen. Die Genfer Internationalisten waren von kleinbürgerlichen Vorurteilen angesteckt, bequemten sich den Ansichten der bürgerlichen Masse an, trieben fast gar keine rein sozialistische Propaganda und waren oft bereit, um der Wahlbündnisse willen die proletarischen Interessen im Stiche zu lassen. Andererseits führten zwar die Bakunisten eine prinzipielle offene Propaganda des revolutionären Sozialismus, ohne Furcht, die Eigentumsinstinkte zu verletzen, fingen aber zugleich an, politischen Indifferentismus zu predigen, sprachen sich gegen die Organisation einer selbständigen politischen Partei des Proletariats aus und lehnten entschieden die Idee der Diktatur des Proletariats zum Zwecke der Umgestaltung der Gesellschaft auf den Grundlagen des Kollektivismus ab.

Bakunin, dem der Ruhm eines alten Revolutionskämpfers vorausging, gruppierte schnell alle unzufriedenen Elemente um sich, vereinigte ihre vereinzelten Anstrengungen und suchte sie auf ein fest hingestelltes Ziel zu richten: den vorherrschenden Einfluß und die Macht in der Internationale für sein anarchistisches Programm zu erringen. Ein großer Bezauberer, versäumte er es nicht, die Sympathien der Intellektuellen und Arbeiter, mit welchen er zusammenkam, zu erwerben, und mittels seiner glänzenden Artikel in dem Locler „Progrès“ und in der Genfer „Egalité“ gab er seinen Anhängern die Losung und das Banner. Sein Einfluß wuchs rasch, und dies trat auf dem Baseler Kongreß der Internationale im September 1869 zutage. Das war der erste internationale sozialistische Kongreß, auf welchem Bakunin zugegen war, der Mandate von den Lyoner Seideabwicklerinnen und den Neapolitaner Mechanikern bekommen hatte.

Auf dem Kongreß stießen drei Richtungen aufeinander: die Mutualisten (das heißt kleinbürgerliche Proudhonisten, die für die Organisation des unentgeltlichen Kredits und des gerechten Austausches zwischen den Produzenten schwärmten), deren Kräfte immer mehr abnahmen; die Kommunisten, die zum Generalrat hielten und im allgemeinen die Ansichten von Marx teilten, und endlich die Kollektivisten, unter welchen die anarchistischen und putschistischen Elemente vorherrschten und deren Führer Bakunin war. Solange es sich um den Kampf gegen die Mutualisten handelte, unterstützten die Bakunisten die Marxisten in der Verteidigung des Prinzips des Kollektiveigentums. Doch in den übrigen Fragen trennten sie sich voneinander: die eine Richtung konnte man die sozialdemokratische nennen, und zu ihr hielten sich die Deutschen, die deutschen Schweizer und die Engländer, die andere, die sich Kollektivisten nannte, bestand aus den antiautoritären (staatsfeindlichen) Kommunisten alias Föderalisten oder Anarchisten.

Bakunin trat mit einer großen Rede auf, in welcher er sich für die Aufhebung des Erbschaftsrechtes aussprach. Weder der Antrag des Generalrats noch die Resolution der Kommission, die in Bakuninschem Geiste verfaßt war, erhielt die absolute Majorität; doch erhielt die Resolution immerhin mehr Stimmen (82) als der Antrag des Generalrats (19). Dies mußte Marx natürlicherweise erbittern und ihm zeigen, daß die Gefahr viel größer war, als er gedacht hatte, denn die Abstimmung über diese Frage zeugte von einem bedeutenden Einfluß Bakunins und seiner Anhänger in den Reihen der Internationale. Bakunin selbst hoffte offenbar in dieser Zeit noch, daß es ihm bald gelingen werde, eine herrschende Stellung in der Internationale zu erlangen, und er beantragte, die Machtbefugnisse des Generalrats zu erweitern.

Während des Baseler Kongresses fand ein Ehrengericht zwischen Bakunin und Liebknecht aus folgendem Anlaß statt. Im Sommer 1869 druckte Borkheim in der Berliner „Zukunft“ die alte Verleumdung wieder ab, als sei Bakunin ein Agent der russischen Regierung; und Bakunin hatte Nachricht davon erhalten, daß Liebknecht sich mehreremal erlaubt hatte zu behaupten, er hätte die Beweise dafür, daß dies wahr sei. Das Ehrengericht erkannte einstimmig an, daß Liebknecht einen verdammenswerten Leichtsinn an den Tag gelegt habe, indem er gegen ein Mitglied der Internationale Anklagen erhoben habe auf Grund von verleumderischen Artikeln der bürgerlichen Presse, und händigte Bakunin eine entsprechende schriftliche Resolution ein. Liebknecht erkannte seinen Irrtum ehrlich an und reichte Bakunin die Hand: da verbrannte der letztere in Anwesenheit aller die Resolution des Ehrengerichtes, indem er seine Zigarette damit anzündete.

Leider hörten die Insinuationen gegen den russischen Revolutionär nicht auf. Als der Kampf zwischen den Bakunisten und dem Generalrat nach dem Baseler Kongreß noch stärker ausbrach, versandte Marx als Vertreter Deutschlands im Generalrat seinen Anhängern eine konfidentielle Mitteilung, in welcher neben einer starken Kritik der Bakuninschen Tendenzen sich auch nicht ganz begründete Angriffe auf Bakunin fanden, von denen wir oben sprachen. Freilich bezweifelt hier Marx keinen Augenblick die politische Ehrlichkeit Bakunins, doch stellt er ihn als den größten, von Ehrgeiz getriebenen Intriganten hin (was übrigens Bakunin auch in bezug auf Marx tat), und dabei erhob er unrichtige Anschuldigungen gegen Bakunin. So schreibt er: „Herzen starb. Bakunin, der seit der Zeit, wo er als Lenker der europäischen Arbeiterbewegung sich aufwerfen wollte, seinen alten Freund und Patron verleugnet hatte, stieß sofort nach dessen Tod in die alte Lobesposaune. Warum? Herzen lies sich trotz seines persönlichen Reichtums jährlich 25 000 Franken für Propaganda von der ihm befreundeten pseudo-sozialistischen panslawistischen Partei in Rußland zahlen. Durch sein Lobgeschrei hat Bakunin diese Gelder auf sich gelenkt und damit die Erbschaft Herzens — malgré sa haine de l’héritage (trotz seines Erbschaftshasses) — pekuniär und moralisch sine beneficio inventarii (ohne die Rechtswohltat des Inventars) angetreten.“

Daß Marx sich im guten Glauben befand, ist nicht zu bezweifeln; aber man sieht doch, daß er von seinen russischen Gesinnungsgenossen sehr schlecht informiert wurde. Dies ist nicht verwunderlich, wenn wir beachten, daß die Nachrichten über die russischen Sachen Marx von einem Subjekt wie N. Utin19 zugestellt wurden. In Wirklichkeit existierte in Rußland niemals so etwas wie „eine pseudo-sozialistische panslawistische Partei“: niemals schickte sie Herzen irgendwelche Gelder, und die 25 000 Franken, von welchen Marx nach Hörensagen spricht, waren der sogenannte „Bachmetjewsche Fonds“: der junge Sozialist Bachmetjew, der aus Rußland emigriert war, hatte Herzen 20 000 Franken für die Sache der russischen Propaganda übergeben; später fielen diese Gelder in die Hände Netschajews. Was die Lobpreisungen Bakunins Herzen gegenüber anbetrifft, so waren sie zweifellos aufrichtig, und obgleich Bakunin in vielem mit seinem alten Freunde auseinanderging und ihm dies offen sagte, so schätzte er doch seinen Verstand und hegte eine große Anhänglichkeit an ihn. Während auf Grund von Marx’ Worten seine deutschen Freunde Bakunin für einen durchtriebenen und beinahe käuflichen Menschen halten mußten.20

Nachdem der romanische Föderalrat in Genf es abgeschlagen, die Sektion der Alliance in seine Reihen aufzunehmen, entbrannte der Streit der zwei Richtungen noch heftiger und erreichte seinen höchsten Grad, nachdem in der Redaktion der „Egalité“ eine Umwälzung stattgefunden hatte und ihre Leitung in die Hände Utins geraten war, der einen energischen Kampf gegen die Bakunisten begann. Beide Seiten bereiteten sich auf den Kongreß de romanischen Föderation in La Chaux-de-Fonds vor, der im April 1870 stattfand. Auf diesem Kongreß hatten die Bakunisten eine Mehrheit von 8 Stimmen (21 gegen 18) und beschlossen, die Genfer Sektion der Alliance in die romanische Föderation aufzunehmen. Es entstand eine Spaltung: die Minderheit ging weg und die Mehrheit beschloß, den Sitz des Föderalrats aus Genf nah La Chaux-de-Fonds zu verlegen und in Neuchâtel ein offizielles Organ, „Die Solidarität“ zu gründen. Außerdem nahm die Mehrheit eine Resolution über die „Umwandlung der politischen Gesellschaft, die auf Privilegien und Herrschaft gegründet ist, in eine ökonomische, deren Basis die Freiheit und die Gleichheit ist“, an und über die Notwendigkeit der Abstinenz der Arbeiterklasse von jeder Teilnahme an der Wahlpolitik, die nur zur Befestigung des bestehenden Zustandes führt und die sozialrevolutionäre Tätigkeit des Proletariats aufhebt. Umgekehrt sprach sich die Minderheit gegen die politische Abstinenz aus, da diese für die Sache des Proletariats schädlich sei, obgleich sie anerkannte, daß die allseitige Befreiung der Arbeiterklasse nicht durch die Einmischung der Sozialisten in den politischen Kampf und durch Arbeiterkandidaturen erreicht werden könne; doch könnten letztere als gutes Agitationsmittel dienen, welches im allgemeinen Kampfe gegen die kapitalistische Gesellschaftsform nicht aus dem Spiel gelassen werden dürfe.

Der Generalrat weigerte sich, die Bakunisten als romanische Föderation anzuerkennen, späterhin, auf dem Kongreß zu Sonvillier am 12. November 1871, organisierten sie sich als Fédération jurassienne (Juraföderation), unter welchem Namen die Schweizer anarchistischen Gruppen in der Geschichte der Internationale eine Rolle spielten.

* * *

Die Spaltung in der Internationale war durch die Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf den politischen Kampf hervorgerufen. Marx fand, daß der Befreiungskampf der Arbeiterklasse nur in dem Falle seine höchste Spannkraft erreichen könne, wenn es gelingen würde, eine Synthese aller Formen des proletarischen Kampfes herzustellen; von diesem Standpunkt aus sah er die politische Bewegung, welche auf die Eroberung der organisierten Gewalt der heutigen Gesellschaft durch die Arbeiterklasse zum Zwecke der sozialen Umgestaltung gerichtet ist, als einen notwendigen Bestandteil der Klassenbewegung der Arbeiter an. Dieser Gedanke war von Marx schon in der Inauguraladresse der Internationale ausgesprochen, und in den Statuten derselben befand sich der berühmte Punkt 3, der später so viele und heftige Streitigkeiten hervorrufen sollte und welcher lautete, „daß die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse das große Ziel ist, dem jede politische Bewegung als Mittel untergeordnet sein muß“.

In dieser Frage suchte Marx mit besonderer Vorsicht und Takt zu handeln. Indem er die verantwortungsvolle Aufgabe der theoretischen und taktischen Leitung der beginnenden Massenbewegung der Arbeiter, welche ihren Ausdruck in der Internationale fand, auf sich nahm, wollte Marx der Arbeitermasse durchaus keine doktrinären Lehren aufdringen; er suchte nur, von der eigenen Erfahrung der Masse ausgehend, richtig den allgemeinen Sinn und das Endziel des mit elementarer Gewalt sich entwickelnden proletarischen Kampfes zu formulieren. Aus vielen Gründen mußte man mit besonderer Vorsicht an die Frage von der Hineinziehung der Arbeiter in den unmittelbaren politischen Kampf herantreten. Die fragliche Periode zeichnet sich durch politischen Indifferentismus der breiten Arbeitermassen aus. In den meisten Staaten waren die Arbeiter damals gänzlich vom Wahlrecht ausgeschlossen. Außerdem fingen die Arbeitermassen erst jetzt, und zwar nur in den fortgeschrittensten Ländern an, sich aus der politischen Herrschaft der bürgerlichen Demokratie zu befreien. In England begann der Kampf um die Erweiterung des Wahlrechtes, und in Frankreich bahnte sich ein selbständiges politisches Auftreten des Proletariats in Form von sogenannten Arbeiterkandidaturen an; zu den letzteren verhielten sich sogar die meisten Pariser Arbeiter gleichgültig, wobei die einen in der Aufstellung, von Arbeiterkandidaten gegen die bürgerlichen Demokraten einen Trick der bonapartistischen Polizei erblickten, die anderen überhaupt Angst hatten, von politischen Aufgaben der Arbeiterklasse zu reden, um nicht die Blicke der Polizei auf sich zu lenken. Aus solchen Gründen wurden unter anderem aus der ersten französischen Übersetzung der Statuten der Internationale die oben zitierten Worte „als Mittel“ ausgelassen. Kurios ist es, daß später die Bakunisten in ihrem Kampfe mit den Marxisten sich auf diese ungenaue französische Übersetzung beriefen, welche von französischen Proudhonisten hauptsächlich aus Angst vor der Polizei entstellt worden war, die dadurch ihren politischen Indifferentismus zu stützen suchten. Als auf dem zweiten Kongreß der Internationale in Lausanne (1867) folgende Resolution vorgeschlagen wurde: „Die Ermanglung politischer Freiheit ist ein Hindernis der sozialen Erziehung des Volkes und der Emanzipation des Proletariats, und deshalb ist die soziale Emanzipation der Arbeiter unzertrennlich von der politischen Emanzipation und die Eroberung der politischen Freiheit eine erste und absolute Notwendigkeit“, unterstützten die späteren Führer des Anarchismus Guillaume und Genossen diese Resolution und schoben sie sogar in den Vordergrund.

Jeder Versuch der Internationale, unmittelbare politische Schritte als allgemeine nächste Aufgabe aufzustellen, drohte Zerwürfnisse in der Internationalen Arbeiterassoziation hervorzurufen. Und wahrscheinlich hätte Marx noch lange mit der Zuspitzung der politischen Frage zurückgehalten und die Sache dem natürlichen Gange der Ereignisse, dem allmählichen Anwachsen der proletarischen Erfahrung überlassen, wenn das Auftreten der Bakunisten diesem Problem nicht sofort eine scharfe Form verliehen hätte.

Zum Unterschied vom Marxismus, welcher die Ideologie des entwickelten Proletariats der Großindustrie darstellte und die allgemeinen Interessen der Arbeiterbewegung im ganzen zu vertreten suchte, war der Bakunismus die Ideologie, in welcher der elementare Drang des verelendeten Lumpenproletariats mit den unbestimmten Bestrebungen der Bauern der zurückgebliebenen, eben erst in das Stadium kapitalistischer Entwicklung eintretenden Länder sich mischten. Dadurch erklärt es sich, daß die anarchistischen Ansichten Bakunins ihre Hauptanhänger in Rußland, Italien, Spanien fanden. Hier haben sie sich auch am längsten erhalten. Die Sozialisten der anderen entwickelteren Länder, wie England, Belgien, Holland, Frankreich und die Schweiz, wenn sie sich auch den Bakunisten in ihrem Kampfe gegen den Generalrat anschlossen, unterstrichen stets ihr Abweichen von der anarchistischen Taktik der Bakunisten und trennten sich bald vollständig von ihnen.

Indem sie die unmittelbare Zerstörung des Staates und jeder Herrschaft erstrebten und jedes staatliche Element als mit der Freiheit der Person unvereinbar und für die arbeitende Bevölkerung unheilbringend ansahen, verwarfen die Bakunisten unbedingt „jede politische Aktion, die nicht zu ihrem unmittelbaren und direkten Ziel den Sieg der Arbeiterklasse über das Kapital hat“. Sie erstrebten eine unmittelbare soziale Revolution ohne die Zwischenetappe der politischen Organisation und politischen Bildung des Proletariats. Dank der vollständigen Abwesenheit von Erfahrungen in dieser Richtung und weil sie nur die damaligen konkreten Bedingungen im Auge hatten — die politische Rechtlosigkeit der Massen einerseits und ihre Abhängigkeit von den bürgerlichen Parteien andererseits —, stellten sie sich die Möglichkeit und Notwendigkeit eines selbständigen politischen Auftretens der Arbeiterklasse und der Organisation selbständiger Arbeiterparteien gar nicht vor. In den in dieser Richtung gemachten Versuchen sahen sie nur die Bestrebung, den Sozialismus im Interesse der bürgerlichen Politik auszunutzen. Die sozialdemokratische Taktik betrachteten sie als eine ununterbrochene Kette von Kompromissen, die nur dem Bürgertum und dem bürgerlichen Staate dienen. Mit diesen Ansichten war das negative Verhalten zu allen Reformen und sogar zur politischen Freiheit verbunden. Sie verstanden den Marxschen Satz, daß jeder Klassenkampf ein politischer Kampf ist, gar nicht und waren absolut unfähig, sich die Möglichkeit und Nützlichkeit einer politischen Partei der Arbeiterklasse vorzustellen, die unabhängig von den bürgerlichen Parteien und im Gegensatz zu ihnen auftritt.

Daß zwischen zwei so verschiedenartigen und entgegengesetzten Tendenzen ein heißer Kampf entbrennen mußte, ist selbstverständlich. Es handelte sich hier eben um einen naturgemäßen Konflikt zweier Ideologien, die zwei verschiedenen Entwicklungsstufen des Proletariats entsprachen. Hieraus und nur hieraus erklärt sich sowohl der internationale Charakter des Zusammenstoßes als auch die unausgesetzte Fortdauer des Kampfes.

Die prinzipiellen Meinungsverschiedenheiten zwischen Bakunisten und Marxisten führten natürlich bald auch zu Meinungsverschiedenheiten in Fragen der Organisation. Denn jeder allgemeinen geschichtsphilosophischen Weltanschauung entspricht ihre bestimmte Taktik und ein bestimmter Plan der Organisation. Dem national (und sogar international) konzentrierten nächsten Ziel der Marxisten, und zwar dem Streben nach der Eroberung der politischen Macht und dem Besitzergreifen des Staates zwecks der sozialen Umgestaltung mit Hilfe der organisierten Macht der Gesellschaft, entsprach eine zentralisierte und disziplinierte Organisation. Umgekehrt entsprach den anarchistischen, auf Zerstörung gerichteten Bestrebungen der Bakunisten, die durch Putsche, Teilaufstände und Handstreiche die Auflösung der sozialen Bande herbeizuführen gedachten, um, nachdem sie reinen Tisch gemacht, von unten auf eine neue Organisation auf der Grundlage freier Übereinkunft der Einzelmitglieder und der unabhängigen Gruppen zu schaffen; diesen bakunistischen Bestrebungen entsprach das föderalistische Ideal, ein Plan, der die Organisation dezentralisiert, eine unbeschränkte Selbstregierung der einzelnen Sektionen, die vollkommene Zersplitterung der Tätigkeit der Partei fordert.

Während der ersten Arbeitsperiode der Internationalen Arbeiterassoziation erhob sich kein Widerspruch gegen die Notwendigkeit einer einheitlichen, disziplinierten Tätigkeit in der Internationale. Es wurden im Gegenteil auf dem Lausanner Kongreß die Machtbefugnisse des Generalrats noch ausgedehnt, und man bevollmächtigte ihn, wenn er es für notwendig erachte, neue Mitglieder zu kooptieren. Und diese Anträge wurden damals auch von Guillaume befürwortet, dem späteren Führer der Autonomisten und Separatisten. Aber der Generalrat hatte kaum von seinem Rechte Gebrauch gemacht, indem er vermittelnd in den Streit zwischen Marxisten und Schweizer Bakunisten eingriff, als ein ungemein heftiger Feldzug gegen ihn eröffnet wurde. Man beschuldigte ihn des Despotismus, des Autoritarismus und anderer Todsünden gegen die vollständige, unbegrenzte Autonomie der Sektionen. Natürlich spielte in diesem Feldzug gegen den Generalrat die Unzufriedenheit der Anarchisten mit seiner marxistischen Zusammensetzung eine Hauptrolle. Indem sie gegen die Bestrebungen, den einzelnen Sektionen eine einheitliche Taktik aufzudrängen, protestierten, wollten sie vor allem ihr eigenes Recht auf politische Abstinenz verteidigen. Doch dabei schreckten sie vor den stärksten Übertreibungen nicht zurück und bestanden auf dem Rechte jeder Sektion, ihre eigene Taktik anzuwenden, leugneten überhaupt die Notwendigkeit allgemeiner politischer Formeln sowie jeder Zentralisation und suchten das anarchistische Prinzip schon in der Organisation und Tätigkeit der Internationale durchzuführen. Dadurch schädigten sie später ihre eigene Arbeit und töteten ihr eigenes Kind.

Man darf nicht vergessen, daß die damalige Internationale im Grunde nicht eine Organisation der Massen war, sondern ein ziemlich loser Zusammenschluß der Offizierstäbe der Bewegung. Die Spaltung war also unausbleiblich. Es muß bemerkt werden, daß Marx und Bakunin die damalige Lage fast mit gleichem Optimismus ansahen und die soziale Revolution als verhältnismäßig nahe bevorstehend erachteten. Doch bei all seinem revolutionären Elan ließ Marx diejenigen notwendigen Vorbedingungen der sozialen Umgestaltung nicht aus dem Auge, von denen der romantisch gestimmte Utopist Bakunin nichts wissen wollte. Die Sozialisten der alten Schule, unter deren Einfluß sich zum Teil auch die Ansichten von Marx gebildet hatten, stellten sich gewöhnlich den politischen Kampf bloß als den letzten Akt, das heißt als den bewaffneten Aufstand des Proletariats und seine Besitzergreifung der öffentlichen Gewalt vor. Es scheint, daß auch Marx selbst nicht sofort zu dem Gedanken der Notwendigkeit des politischen Kampfes im Sinne eines beständigen und planmäßigen Eingreifens in alle Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Ausnutzung im Klasseninteresse des Proletariats gekommen ist. In dieser Hinsicht hat wohl die Tätigkeit Lassalles und der deutschen Sozialdemokraten beider Lager keine geringe Rolle gespielt.

Die Londoner Konferenz, welche im September 1871 stattfand, sollte den Konflikt zwischen Marxisten und Bakunisten lösen. Zu dieser Zeit trat die Frage der politischen Aufgaben des Proletariats nicht mehr unter der abstrakten Form allgemeiner Wünsche heran, sondern in der konkreten Gestalt einer Reihe von bestimmten Handlungen und positiver Taten.

Die blutige Lehre der Kommune hatte die historische Notwendigkeit festgestellt und in den Vordergrund gerückt, die Arbeiterklasse in eine bestimmt abgegrenzte Partei zu organisieren, deren Aufgabe es ist, nach der Eroberung der politischen Macht im Interesse ihrer sozialen Emanzipation aus eigener Kraft zu streben. Andererseits hatten die deutschen Arbeiter gegen Ende der sechziger Jahre die sozialdemokratische Arbeiterpartei gebildet; in ihrem Eisenacher Programm waren die unmittelbaren Aufgaben der Sozialdemokratie vorgezeichnet, insonderheit die vollständige Demokratisierung der Gesellschaft und die Eroberung der politischen Macht zum Zwecke der sozialen Umwälzung im kommunistishen Sinne.

Die Resolution der Londoner Konferenz wiederholte diejenigen Stellen aus den Statuten und der Inauguraladresse, in welchen die Notwendigkeit der politischen Tätigkeit unterstrichen war, sowie die obenerwähnte Resolution des Lausanner Kongresses und die Kundgebung des Generalrats anläßlich der vermeintlichen Verschwörung der französischen Internationale vor dem Plebiszit von 1870, wo gesagt war, daß die Sektionen der Internationale in England, auf dem Kontinent und in Amerika die bestimmte Aufgabe haben, nicht nur Mittelpunkt der Organisation der Arbeiterklasse zu sein, sondern auch in den respektiven Ländern jede politische Bewegung zu unterstützen, welche die Erreichung des Endziels der Internationale, nämlich der ökonomischen Befreiung der Arbeiterklasse fördert. Das Proletariat könne gegen die Gesamtmacht der besitzenden Klassen als selbständige Klasse nur handeln, wenn es sich als abgegrenzte politische Partei konstituiere im Gegensatz zu allen bestehenden, von den besitzenden Klassen gebildeten Parteien. Die Bildung der politischen Partei des Proletariats sei unumgänglich notwendig für den Sieg der sozialen Revolution und ihres Endziels — der Aufhebung der Klassen. Derjenige Zusammenschluß der individuellen Kräfte, welchen die Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grade schon durch ihren ökonomischen Kampf erreicht, soll auch als Hebel im Kampfe des Proletariats gegen die politische Macht der Ausbeuter dienen. Aus allen diesen Gründen erinnerte die Konferenz alle Mitglieder der Internationale, daß der wirtschaftliche und der politische Kampf des Proletariats unzertrennlich miteinander verknüpft seien.

Die Beschlüsse der Konferenz gossen nur Öl ins Feuer. Der Kongreß der Juraföderation in Sonvillier (Oktober 1871) erhob offen das Banner der Empörung gegen den Generalrat. Die Föderationen Spaniens, Italiens, Belgiens vereinigten sich mit der Juraföderation in ihren Angriffen gegen den Generalrat und besonders gegen die Zentralisierung der Organisation. Die italienische Föderation weigerte sich sogar, am Haager Kongreß teilzunehmen, und schlug vor, alle Beziehungen mit dem Generalrat abzubrechen. Alle bakunistischen Sektionen verlangten, daß man dem Generalrat sämtliche Vollmachten entziehe, und wollten ihn zu einem einfachen statistischen Auskunftsbureau machen. Zugleich waren sie besonders über das Bestreben des Generalrats entrüstet, allen Sektionen eine gemeinsame Linie der politischen Taktik vorzuschreiben.

Der entscheidende Zusammenstoß, der beiden kämpfenden Parteien tödliche Schläge versetzte, fand auf dem Haager Kongreß statt (September 1872). Der Haager Kongreß, auf welchem Marx zum erstenmal persönlich erschien, um das Werk seines Lebens zu verteidigen, bestätigte die Entscheidungen der Londoner Konferenz und nahm mit Stimmenmehrheit folgende Resolution des Blanquisten Vaillant an: „In ihren Befreiungskämpfen kann die arbeitende Klasse nur dadurch als Klasse handeln, daß sie sich zu einer politischen Partei konstituiert, die von allen alten Parteien, die die besitzenden Klassen gebildet haben, abgegrenzt ist und ihnen feindlich gegenübersteht. Diese Konstituierung der arbeitenden Klasse zu einer politischen Partei ist unerläßlich, um den Triumph der sozialen Revolution und deren letztes Ende, die Abschaffung aller Klassen, herbeizuführen. Die Zusammenfassung der Kräfte, die die arbeitende Klasse bei ihren wirtschaftlichen Kämpfen schon durchgeführt hat, muß zugleich als Hebel in ihren Kämpfen gegen die politische Macht der Grundbesitzer und Kapitalisten dienen. Da die Herren des Grundbesitzes und des Kapitals sich ihrer politischen Privilegien immer bedienen werden, um ihre ökonomischen Monopole zu verteidigen und sie zu verewigen, wird die Eroberung der politischen Gewalt die große Pflicht des Proletariats.“ Der Generalrat trug einen vollständigen Sieg davon, doch war dieser Sieg zugleich eine Niederlage. Der zentralistische Charakter der Organisation wurde betont, die Vollmachten des Generalrats beträchtlich erweitert, es wurde ihm das Recht zuerteilt, einzelne Sektionen und ganze nationale Föderationen bis zum nächsten Kongreß zu suspendieren. Die desorganisatorische Tätigkeit Bakunins wurde aufs schärfste verurteilt, Bakunin selbst und Guillaume, das tätigste Mitglied der Juraföderation, aus der Internationale ausgeschlossen. (Unter anderem warf man Bakunin außer seiner desorganisierenden Tätigkeit und der Intrigen der von ihm gegründeten Alliance sozialer Revolutionäre seine Beziehungen zu Netschajew und die bekannte Geschichte mit der Übersetzung des „Kapital“ vor; doch ist dies eine Nebensache, die im gegebenen Falle keine besondere Bedeutung hat. Wir kommen auf diese Angelegenheit noch im neunten Kapitel zurück.) Der Beschluß, den Generalrat nach New York zu verlegen, der hauptsächlich durch die Befürchtung veranlaßt war, die Blanquisten könnten sich seiner bemächtigen, kam dem Zugeständnis gleich, daß die alte Internationale sich überlebt habe.

Achtes Kapitel.
Bakunins soziale Anschauungen.

Hier halten wir es für notwendig, einen kurzen Überblick der sozialen Auffassung Bakunins zu geben.

Die Ansichten Bakunins bildeten sich in einer kritischen Epoche, in einer Periode schwankender sozialpolitischer Verhältnisse und einer tiefen gesellschaftlichen und gedanklichen Gärung. Die Geschichte war damals gleichsam aus ihren Fugen geraten; ganz Europa von Süd bis Nord, von Westen bis Osten (die Grenzen Rußlands übrigens nicht überschreitend) war in Erregung geraten. Es war gleichsam ein Brechen des Eises im Frühling, als die scheinbar festesten und von der Tradition geheiligten Institutionen und Vorstellungen mit großem Krach zu bersten und sich umzustülpen begannen. In Frankreich trat die radikale Demokratie auf die Szene, und der Sozialismus erhob das Haupt; in Deutschland stand das System Metternichs im Begriff auseinanderzufallen, Österreich schien an der Schwelle seiner Auflösung zu stehen, und sogar das untertänige Preußen hatte sich von seinem König abgewandt.

Die bürgerliche Gesellschaft entstieg dem Schoße der Geschichte. Nach den ersten Geburtswehen während der englischen Revolution des siebzehnten und besonders der französischen des achtzehnten Jahrhunderts, nach der Periode der dreißiger und vierziger Fahre des neunzehnten Jahrhunderts brach die europäische Krise von 1848 aus, welche die allerweitestgehenden Hoffnungen erregte und nicht nur heiße Köpfe veranlaßte, „den zweiten Monat der Schwangerschaft für den neunten zu halten“. Der erste große Ansturm der bürgerlichen Gesellschaft war von den wieder zu sich gekommenen Mächten der Reaktion zurückgeschlagen, doch die Gärung hörte nicht auf, und der kapitalistische Maulwurf setzte seine unterirdische Arbeit fort. Nach einer verhältnismäßig kurzen Periode der Reaktion, welche ungefähr zehn Jahre dauerte, trat Europa aufs neue in eine kritische Epoche ein.

In den fünfziger und sechziger Jahren bereitete sich in Frankreich die Republik vor; in Preußen fand der konstitutionelle Konflikt statt, und das durch die Bedürfnisse der wachsenden bürgerlichen Gesellschaft hervorgerufene unbesiegbare Streben nach der deutschen Einheit verlieh dem ganzen deutschen Leben einen revolutionären Charakter. In Österreich ging eine dumpfe Gärung vor sich, welche nach zwei Niederlagen des Absolutismus (in den Jahren 1859 und 1866) zur Kapitulation des feudalen Polizeistaats führte. Spanien hatte das politische Gleichgewicht verloren und schien vom Ende der sechziger Jahre an in eine endlose Periode von Unruhen eingetreten zu sein, die zu einer vollständigen Auflösung des Staates zu führen drohten. In Italien hörten die Versuche der nationalen Einigung und der Bildung eines zentralisierten bürgerlichen Staates mit Hintansetzung der Volksinteressen nicht auf. Diesmal trat sogar Rußland der allgemeinen Bewegung des Jahrhunderts bei: hier war die Frage der Bauernbefreiung auf die Tagesordnung gestellt, und die nächste Zukunft schien vollständig unbestimmt, so daß sie für die allerrosigsten Hoffnungen auf die Möglichkeit einer gegen die Grundfesten des alten Zustandes gerichteten Volksbewegung Raum gab. Alles dies in Verbindung mit den revolutionären Erinnerungen von 1848 schaffte die Atmosphäre einer gewissen Unsicherheit und Möglichkeiten, die anarchistische Hoffnungen erwecken konnten.

Bakunin, der die Epoche der Reaktion nicht aus der Nähe beobachtet und unmittelbar erlebt hatte, brachte aus Sibirien seine früheren unbestimmt-rebellishen Stimmungen mit, die aufs beste zu dieser allgemeinen Gärung und Unsicherheit paßten. Wenn irgendwann die Hoffnung auf einen unmittelbaren Übergang von der feudal-polizistischen Reaktion zu einem Arbeiterregime, zur vollständigen sozialpolitischen Befreiung der arbeitenden Massen entstehen konnte, so gerade in diesem Augenblick des Umschwunges, als die bürgerliche Gesellschaft, die Grundlagen des alten Regimes erschütternd, selbst noch in der Periode ihrer Entstehung sich befand, noch nicht die Kräfte zum Kampfe nach zwei Richtungen hin gesammelt hatte — in der Richtung gegen die Mächte der Vergangenheit einerseits und gegen die aufstrebende Arbeiterklasse andererseits. Die historische Figur Bakunins war der elementare Ausdruck dieses kritischen Überganges vom vorbürgerlichen Zustand zum bürgerlichen, derjenigen sozialen, politischen und gedanklichen Schwankungen, welche durch diese Krise hervorgerufen waren, durch die Niederlage der herrschenden Mächte und die Schwäche der neuen bürgerlichen Klasse (die sich nur als scheinbar erwies), durch jene grandiosen, aus der chaotischen Gärung der Übergangsperiode erwachsenen Hoffnungen. Gründe genug, daß einem der Kopf schwindlig werden konnte, besonders ein so heißer Kopf wie der Bakunins. Und jene geschichtliche Wendung, die bloß die Befreiung der bürgerlichen Gesellschaft aus ihren Windeln bedeutete, hielt Bakunin für die Krise des Untergangs der bürgerlichen Welt; das Ende des Anfangs, das heißt das Ende der ersten Periode der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft hielt er für den Anfang des Endes, für den unmittelbaren Prolog der sozialen Revolution. Dieser Fehler wird dadurch verständlich, daß Bakunin weniger der ideologische Vertreter des großindustriellen Proletariats war, welches sich zusammen mit der Bourgeoisie bildet und entwickelt, als der Vertreter der wirtschaftlich rückständigen Länder wie Rußland und Italien, wo der Kapitalismus seine ersten Schritte machte und wo er (besonders in Rußland) in die Periode der „ursprünglichen Akkumulation“ eintrat und sich gründlich an die Expropriation der Masse der arbeitenden Bevölkerung, der halb in Naturalwirtschaft lebenden Bauernschaft machte. Und wie wir sehen werden, spielten in der Weltanschauung Bakunins der elementare Protest, die Instinkte und Bestrebungen dieser Bauernschaft, welche durch das eindringende Kapital ruiniert wurde, eine Hauptrolle. Gerade sie bedingten sein negatives Verhalten zur Sozialdemokratie, seine staatsfeindlichen Ansichten, seine anarchistischen Bestrebungen und bestimmten in hohem Maße Inhalt und Form seiner aufrührerischen Weltanschauung im voraus.

1. Gegen Staat und Politik.

In ihrer endgültigen Form ist die soziale Auffassung Bakunins wesentlich antipolitisch. Das Hauptübel, welches sogar die demokratische Republik in ihr Gegenteil verwandelt, erblickt Bakunin wie auch Proudhon in der politischen Zentralisation; die Zentralisation und die Allmacht des Staates sind nach seiner Ansicht die vollständige Verneinung der Freiheit. Diesem Prinzip stellt Bakunin „das große, Rettung bringende Prinzip des Föderalismus“ entgegen. „Der Staat einerseits, die soziale Revolution andererseits — dies sind die zwei großen Pole, deren Antagonismus das innerste Wesen des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens in ganz Europa ausmacht,” sagt Bakunin in seinem Buche „Staatlichkeit und Anarchie”, indem er unter sozialer Revolution die anarchistische soziale Liquidation versteht und auf diese Weise die Bedeutung des Anarchismus sehr übertreibt, da dieser weder vorher noch nachher eine solche Rolle gespielt hat. Die Attacke Bakunins galt nicht nur dem Staat, sondern auch dem Prinzip der Herrschaft, das ihm zugrunde liegt. Jeder Staat sei auf dem religiösen (?) Gedanken der Herrschaft, der Autorität aufgebaut.

Da jeder politische Staat notwendigerweise in nationale Grenzen, in einen territorialen Rahmen eingeschlossen ist, so folgt daraus, daß er seinem Wesen nach den Bestrebungen der Sozialisten widerspricht, da die soziale Frage nur in internationalem und die ganze Erde umfassendem Maßstab gelöst werden kann. Und nur derjenige, der wirklich die völlige Vernichtung des Staates und der Politik, welche die notwendige Lebensäußerung dieses Staates ist, erstrebt, nur der kann wirklich Internationalist und Sozialist heißen; „derjenige, der im Unterschied von uns Politik treiben will, der nicht mit uns zusammen zur Vernichtung der Politik strebt, muß durchaus eine patriotische und bürgerliche Staatspolitik treiben, das heißt faktisch im Namen seines kleinen oder großen Staates die menschliche Solidarität nach außen sowie die ökonomische und soziale Emanzipation nach innen verleugnen“. Bakunin läßt daher absolut keine Möglichkeit einer politischen Tätigkeit des Proletariats zu, die in nationalem Rahmen vor sich ginge, aber dennoch einen vollständig internationalen Charakter trüge. Doch das Leben erwies sich viel komplizierter als seine schematischen Beweisführungen, und die Wirklichkeit hat gezeigt, daß gerade die politische Tätigkeit, welche entgegen seiner Meinung zugleich national (aber nicht nationalistisch!) und international sein kann, mit jedem Tage immer mehr den Boden zu einer wirklich reellen und nicht bloß in Worten bestehenden Internationalen Arbeiterpolitik bereitet.

Die Kritik des Staates vom Standpunkt der internationalen Solidarität verbindet sich bei Bakunin natürlicherweise mit der Kritik der Idee des Patriotismus. Doch versteht es sich von selbst, daß die Hauptangriffe Bakunins auf den Staat vom Standpunkt der inneren Politik aus geführt werden, „Wer ‚politischer Staat‘ sagt, sei er nun eine absolute Monarchie, eine konstitutionelle Monarchie oder sogar eine Republik, sagt ‚Herrschaft und Exploitation‘. Es ist die Herrschaft einer Dynastie oder Nation oder einer Klasse über die andere — das heißt eine offenbare Negation des Sozialismus.“ Kann eine Konstitution oder die Demokratie dem Übel abhelfen? fragt Bakunin und antwortet: Niemals: die Konstitution ist machtlos gegen die Tatsache der Exploitation, und der demokratische Staat ist ein widerspruchsvoller Begriff.

Daraus, daß die demokratische Konstitution machtlos ist, durch die bloße Tatsache ihres Bestehens die ökonomische Ungleichheit aufzuheben, folgert er, daß jede Konstitution überhaupt abgewiesen werden müsse, und streitet ihr jede Bedeutung ab, vergessend, was er selbst zuweilen über die Bedeutung der politischen Freiheit gesagt. „Man muß ein Esel, völlig ungebildet und verrückt sein,” sagt er energisch mit Bezugnahme auf Rußland, „um sich einzubilden, daß irgend eine Konstitution, auch die allerliberalste und allerdemokratischste, das Verhältnis des Staates zum Volke bessern könne; es zu verschlechtern, es lästiger und ruinierender zu gestalten, ist vielleicht möglich, wenn auch schwer, weil das Übel schon bis zu seinem Ende durchgeführt ist; doch das Volk zu befreien, seine Lage zu verbessern — dies ist bloßer Unsinn. Solange das Reich besteht, wird es unserem Volke das Leben verkümmern.“

Trotz der Entschiedenheit des Stils hält dieses Räsonnement Bakunins auch nicht die gelindeste Kritik aus, aus dem einfachen Grunde, weil er schon bei der Fragestellung zwei kolossale Fehler begeht. Keiner von den Sozialisten dachte jemals daran, zu behaupten, die Konstitution, auch die allerliberalste, könne an und für sich die Klassenscheidung und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufheben. Die Frage besteht aber darin, ob die politische Freiheit die Organisation der Massen erleichtert und ihnen den Weg zum Kampf für das Endziel der wirtschaftlichen Gleichheit freimacht, ob sie die allerschreiendsten Formen der Ausbeutung und der Knechtschaft aufhebt. Gegen diese Punkte hätte Bakunin seine Kritik richten müssen und sich nicht mit unendlichen Variationen darüber begnügen dürfen, daß auch unter der demokratischen Republik gewisse Formen der politischen Knechtschaft und die wirtschaftliche Ausbeutung bestehen bleiben: dies ist ja das Abc des Sozialismus. Zweitens handelt es sich im Kampfe für die politische Freiheit nicht um die Änderung des Verhältnisses des Staates zum Volk, sondern umgekehrt des Volkes zum Staat. Soll das Volk, um diesen allzu unbestimmten und ungenauen Begriff Bakunins beizubehalten, im Verhältnis zum Staat oder genauer zu der im gegebenen Moment herrschenden Klasse waffenlos bleiben, oder soll das Volk oder besser gesagt die unterdrückte und ausgebeutete Klasse, soll sie solche politische Zustände erstreben, unter welchen sie dem allgewaltigen Leviathan nicht ganz schutzlos gegenübersteht? Dies ist die Frage, welche von Bakunin ganz beiseite gelassen wird und die er fast immer sorgfältig umgeht.

Ganz vergessend, was er früher21 über die relativen Vorzüge der Demokratie gesagt, behauptete Bakunin auf dem Berner Kongreß der Friedensliga (in seiner vierten Rede), es bestehe „kein großer Unterschied zwischen dem wilden allrussischen Reiche und dem allerzivilisiertesten Staate Europas“. In gewissen Hinsichten sei die Republik sogar schlimmer. „Gerade weil sie in demokratische Formen gehüllt ist, garantiert sie der raubgierigen und reichen Minderheit in viel stärkerem Maße eine ruhige und sichere Ausbeutung der Arbeit des Volkes. … Niemals ist der Despotismus der Regierung so schrecklich und so stark, als wenn er sich auf eine vermeintliche Vertretung des vermeintlichen Volkswillens stützt.“

Der sogenannte „Volksstaat“, von dem damals die deutschen Sozialdemokraten sprachen, ist ein ebensolcher Betrug wie jeder andere. „Der Staat, und mag er zehnmal Volksstaat heißen und mit den demokratischsten Formen aufgeputzt sein, wird für das Proletariat immer ein Gefängnis sein.“ (Für die Slawen bedeutet er nach der Meinung Bakunins auch noch eine freiwillige Beugung unter das deutsche Joch, und „dies ist jedem slawischen Herzen widerwärtig“.) „Ein politisches Parlament, auch das allerrepublikanischste, und mag es ganz aus Arbeitern bestehen, hat nicht die Macht, dem Volke die wirkliche Freiheit zu geben.“

In allen Staaten regiert in Wirklichkeit die Minderheit. Die Souveränität des Volkes („übrigens ein Wort“, fügt Bakunin hinzu, „welches wir hassen: weil nach unserer Meinung jede Souveränität abscheulich ist“), die Selbstverwaltung der Massen, dies sind alles Fiktionen, selbst in den demokratischsten Ländern, selbst in der schweizerischen Republik. Die politische Gleichheit, soweit sie zu ihrer Basis nicht die soziale und wirtschaftliche Gleichheit hat, ist eine ebensolche Fiktion. Der Hauptgrund dafür ist die Unwissenheit der Massen. Zur Ausübung der staatlichen Funktionen, besonders der höheren, ist ein gewisser Grad der Bildung notwendig. Das Volk ist aber dieser Bildung vollständig beraubt, und zwar nicht aus eigener Schuld, sondern wegen seiner ungünstigen sozialen Lage. Und daraus folgt, daß die gebildete Minderheit stets über die ungebildeten Massen regieren wird. Darauf wird geantwortet, das Volk werde sich schon zurechtfinden und sein Vertrauen den Besten und Würdigsten schenken. Aber dies ist nicht wahr: das Volk ist vollständig unfähig, sich zurechtzufinden, erstens, weil es der Bildung beraubt ist, die zur Unterscheidung von Gut und Böse notwendig ist, zweitens, weil es nicht die notwendige Zeit hat, sich mit den Kandidaten, die sich um seine Stimme bewerben, bekannt zu machen. Außerdem gehören diese Kandidaten zu einem ihm ganz fremden Kreise; sie kokettieren mit dem souveränen Volk nur während der Zeit der Wahlen, dann aber, nachdem ihre Wahl durchgesetzt ist, kehren sie ihm den Rücken. Endlich: Wenn sie auch noch so anständig sind, gehören sie ihrer Weltanschauung und ihren Interessen nach zur privilegierten, ausbeutenden Klasse und werden unwillkürlich ihre Privilegien verteidigen und das Volk in ewiger Knechtschaft zu erhalten suchen. Darum ist die politische Gleichheit eine ebensolche Lüge wie die juridische Gleichheit, die Gleichheit vor dem Gesetz. Die Gesetze werden von der Bourgeoisie für die Bourgeoisie geschrieben und sind gegen die Volksmassen gerichtet. Eine ebensolche Lüge ist die vermeintliche Kontrolle des Volkes über seine Vertreter. Und das allgemeine Wahlrecht? Lüge, Illusion, Fiktion, Hokuspokus wie alles andere!

Doch warum, fragt Bakunin, eine Entgegnung voraussehend, warum kann das Volk nicht seine eigenen Leute, Leute des Volkes in die Volksvertretung und als Regierungsmitglieder entsenden? Darauf antwortet er mit zwei Argumenten. Erstens haben die Leute aus dem Volke, die von der Arbeit ihrer Hände leben müssen, keine Zeit, sich ausschließlich der Politik zu widmen; und da sie außerdem mit den politischen und wirtschaftlichen Fragen, die in jenen hohen Regionen entschieden werden, nicht bekannt sind, werden sie fast immer von den bürgerlichen Politikern und Advokaten übers Ohr gehauen werden. Und zweitens — dies ist ein noch ernsterer Grund — genügt es, daß diese Leute in die Reihen der Regierenden eintreten, um sofort von allen Vorurteilen und Mängeln der herrschenden Klassen durchdrungen zu werden und sich in Bourgeois zu verwandeln, die oft noch niederträchtiger sind und mit noch größerer Verachtung auf die Volksmasse, aus der sie gekommen, niederschauen als selbst die Bourgeois von Geburt.

In all diesen Betrachtungen Bakunins ist die Wahrheit aufs engste mit dem Irrtum vermengt. Teils erklärt es sich dadurch, daß er beständig mit dem ganz unbestimmten und keine soziologische Kritik aushaltenden Begriff „Volk“ operiert. Es ist wahr: das allgemeine Stimmrecht hat, besonders in den ersten Momenten seiner Anwendung, eine Reihe von Enttäuschungen gebracht — doch für wen? Für die, welche sich nicht auf den Klassenstandpunkt stellen konnten oder wollten und welche auf das Stimmrecht solche Hoffnungen setzten, die es nicht erfüllen konnte.

Obgleich er ein alter Hegelianer war, blieb die Dialektik der gesellschaftlichen Entwicklung ihm völlig fremd, und in seiner Kritik des Staates und der Politik räsoniert er wie ein Metaphysiker. Die politische Gleichheit — eine Fiktion; die politischen Rechte — ein Betrug; die Kontrolle des Volkes über seine Vertreter — eine Lüge; das allgemeine Wahlrecht — eine Illusion usw. Dazu ist zu bemerken, daß gerade die sozialistische Kritik das Ungenügende all dieser Institutionen im Rahmen der auf den Grundlagen wirtschaftlicher Ungleichheit aufgebauten Gesellschaft enthüllt hat. In dieser Beziehung sagt Bakunin also nichts Neues. Doch was originell ist in seiner Beweisführung, das ist der starre, unbewegliche, dogmatische, metaphysische Charakter seiner Behauptungen. Die geschichtliche und die gesellschaftliche Entwicklung, das ewige Spiel der sozialen Kräfte, die im Schöpfungsprozeß des sozialen Lebens wachsen und sich verändern, existieren für ihn nicht. Jede Erscheinung hat für ihn nur eine Seite, im gegebenen Falle eine negative. Alle Erscheinungen des politischen Lebens sind Fiktionen und Betrug — immer, zu jeder Zeit, unter beliebigen historischen Umständen. In Wirklichkeit ist es natürlich nicht so. Die politische Gleichheit ist freilich in der bürgerlichen Gesellschaft eine Fiktion, bildet aber zugleich eine mächtige Waffe der sozialen Befreiung. Dasselbe läßt sich vom allgemeinen Stimmrecht sagen.

Zur Entschuldigung Bakunins muß gesagt werden, daß die Erfahrung des Jahres 1848 und des zweiten Kaiserreiches eine tiefe Enttäuschung in bezug auf das allgemeine Wahlrecht nicht nur unter den Demokraten, sondern auch unter den Sozialisten hervorgebracht hatte. Sogar Marx und Engels meinten im Anfang der sechziger Jahre, daß das Beispiel des Napoleonischen Frankreich den Glauben an die revolutionäre Bedeutung des allgemeinen Wahlrechtes untergrabe. Doch diese vollkommen berechtigten Befürchtungen, die bei der damaligen verhältnismäßigen Schwäche und Unorganisiertheit der Arbeiterklasse ganz natürlich waren, führten bei ihnen nicht zur Bakuninschen Negierung der Politik und des allgemeinen Wahlrechtes. Doch Bakunin, der die Stimmung der rückständigen Länder mit vorherrschender Bauernbevölkerung und schwachem, unentwickeltem Proletariat repräsentierte, sah diese Fragen anders an. Es ist zu beachten, daß all seine Argumente gegen die Teilnahme des Proletariats am politischen Kampfe dem Kindheitsalter der Arbeiterbewegung entnommen sind, welches mächtig über seine Einbildungskraft herrschte. Einen solchen Charakter tragen zum Beispiel seine Gründe gegen die Arbeiterkandidaturen.

Wir wollen gar nicht davon reden, daß Bakunin die Bedeutung des politischen Kampfes als eines Agitations- und Organisationsmittels für das Proletariat ganz außer acht gelassen hat: fing doch damals einzig die deutsche Sozialdemokratie an, diese Methode zu benutzen, ohne eine richtige Vorstellung von ihrer Bedeutung zu haben. Auch hier ging die Praxis der Theorie voraus, auch hier schuf das Leben die Idee. Daher haben alle Deduktionen und Ableitungen Bakunins einen völlig abstrakten, theoretischen, erdachten Charakter. Das Leben hat alle seine Befürchtungen und Behauptungen widerlegt. Und diejenigen Tatsachen, die er im Auge hatte, als er sein kritisches Gebäude errichtete, das heißt die Vorgänge des Jahres 1848 und des zweiten Kaiserreiches, hatten im Grunde genommen gar keine Beziehung zu der erst viel später begonnenen organisierten und bewußten Teilnahme des Proletariats am politischen Kampf.

2. Die Anarchie.

Bakunin negierte also sowohl das Prinzip des Staates als auch die Möglichkeit und Zulässigkeit des politischen Kampfes für das Proletariat, als eines Kompromisses mit dem staatlichen Prinzip. Nach seinen Worten, welche öfters buchstäblich Proudhons Ausdrücke wiedergeben, mußte der Staat sich in der frei auf den Grundlagen der Gerechtigkeit organisierten Gesellschaft auflösen. Das einzige, was der Staat machen kann, ist, sich selbst aufzuheben und zu verschwinden. Die politische Zentralisation hat der wirtschaftlichen Zentralisation Platz zu machen; während die letztere die Grundlage der Zivilisation ist und die Freiheit schafft, ertötet die politische Zentralisation jedes eigene Leben, jede Selbsttätigkeit der Bevölkerung zugunsten der herrschenden Klassen und der Regierung, und tötet damit auch die Freiheit.

Die soziale. Revolution muß zur Vernichtung jedes Prinzips der Herrschaft führen, und dann wird die Regierung sich in eine bloße Verwaltung der allgemeinen Angelegenheiten verwandeln. Mit der Vernichtung der politischen Zentralisation, mit der Auflösung des politischen Staates wird das Prinzip der freiwilligen Organisation von unten nah oben Anwendung finden, das einzige Prinzip, welches nach der Meinung Bakunins die völlige Freiheit der Persönlichkeiten und Gruppen garantiert.

Die ökonomische Befreiung der Arbeiter ist unmöglich unter den gegenwärtigen politischen und sozialen Institutionen. „Um dieselbe zu erringen und zu realisieren, ist es daher notwendig, alle bestehenden Institutionen zu zerstören: den Staat, die Kirche, das juridische Forum, die Bank, die Universität, die Administration, die Armee und die Polizei; welche in Wirklichkeit nichts vorstellen als eine Reihe von Festungen, die von den Privilegierten gegen das Proletariat errichtet worden sind. Und es genügt nicht, sie in einem Staate zu zerstören, sie müssen in allen Ländern vernichtet werden.“

Da er zur sozialen Liquidation, zur anarchistischen Revolution, zur Vernichtung des Staates strebt sowie aller mit dem Staate verbundenen Institutionen, setzt Bakunin das Zusammenfallen der politischen und sozialen Revolutionen voraus. Da die politische und soziale Revolution unzertrennlich, so kann von einer Politik der Sozialisten keine Rede sein, und die Internationale hat alle Politik abzuweisen, die nicht die soziale Umwälzung zu ihrem unmittelbaren Ziele hat.

Doch warum es keine sozialistische Politik geben könne, hält Bakunin für unnütz zu erklären. Nach seiner Ansicht muß jede Politik durchaus eine bürgerliche Politik sein. Er sagt es sogar direkt, daß außer der bürgerlichen Politik nur die Anarchie denkbar sei — weiter nichts. Aber gleichsam fühlend, daß seine Argumentation nicht überzeugend ist und dem unzweifelhaften Streben der Arbeitermassen widerspricht, verkündet er, daß die Anarchisten dennoch ihre Politik hätten, welche er die negative Politik nennt. Freilich ist es klar, daß die negative Politik Bakunins, welche er triumphierend der positiven Politik der Sozialdemokraten entgegenstellt und die eine von ihm selbst gefühlte Leere auszufüllen hat, im Grunde genommen und letzten Endes dennoch eine völlige Abwesenheit der Politik bedeutet. Die stolze Selbstbeseitigung von allen politischen Konflikten, das heißt den nationalen und Klassenkonflikten der modernen Gesellschaft, die anarchistische Sezession auf den Aventinischen Berg der politischen Abstinenz, die fruchtlose Kritik der politischen Tätigkeit der Sozialisten sind nicht imstande, etwas Positives zu schaffen, und können nur die Entwicklung des Klassenbewußtseins des Proletariats aufhalten, da sie es der Möglichkeit berauben, praktisch die schlaue Mechanik des kapitalistischen Regimes in nationalem Maßstab kennen zu lernen. Die anarchistische Auslegung, welche Bakunin dem Programm der Internationale gab, war nur im ersten Augenblick der Entwicklung der Internationale möglich, als ihre Stifter aus taktischen Gründen es vorerst vermieden, in bestimmter Weise die politischen Aufgaben der Arbeiterklasse zu formulieren. Als aber diese Formulierung stattgefunden (auf dem Lausanner Kongreß 1867), hörte die Bakuninsche Ablehnung der Politik auf, dem unzweideutig formulierten Programm der Internationale zu entsprechen.

Aus der Tatsache, daß die Internationale mit einer rein ökonomischen Agitation begann,22 folgert Bakunin, daß man sich überhaupt nur mit einem rein wirtschaftlichen Programm an die Arbeiter zu wenden habe. Für die nächsten Forderungen der Internationale sieht Bakunin die Verkürzung der Arbeitszeit und die Erhöhung des Arbeitslohnes an, und für die Mittel ihrer Tätigkeit hält er die Bildung von Arbeiterkoalitionen und die Propaganda der Idee der wirtschaftlichen Befreiung der Arbeiterklasse. Mit Hilfe dieser Mittel wird die Internationale Arbeiterassoziation „sich endlich in allen Ländern ausbreiten und organisieren, damit im Augenblick der Revolution, welche durch die Macht der Umstände (?) hervorgerufen werden wird, eine wirkliche, bewußte Macht existiere, die sich der Bewegung bemächtigen und ihr eine dem Volke Rettung bringende Richtung verleihen könnte; als diese Macht wird eine ernste internationale Organisation der Arbeiterassoziationen auftreten, welche die politische Welt des Staates und der Bourgeoisie zu ersetzen imstande ist.“

Man kann nicht bestreiten, daß in diesen Worten das ganze Programm des sogenannten „revolutionären Syndikalismus“ im Keime enthalten ist, dessen wesentliche Bestandteile folgende sind: eine rein ökonomische Agitation, die professionale Organisation des Proletariats außerhalb und abseits des Staates und aller politischen Parteien, die Nichteinmischung des Proletariats in den politischen Kampf und die politischen Konflikte der bürgerlichen Gesellschaft, die Ersetzung der politischen Zentralisation durch die wirtschaftliche Zentralisation und der politischen Welt durch eine Föderation der Gewerkschaften.

Bakunin wendete sich aufs entschiedenste gegen den „Volksstaat“, von welchem damals die deutschen Sozialdemokraten sprachen. Bakunin stellte sich diesen Volksstaat als die gewaltsame Herrschaft der organisierten Minderheit über die übrige Masse vor, der man die Theorien mit Gewalt und durch Regierungsmaßregeln aufbürden wolle. Indem er in gleicher Weise auch die Diktatur des Proletariats auffaßt, spricht er sich natürlich mit ebensolcher Bestimmtheit auch gegen sie aus. „Der internationale Staat oder jener Volksstaat, von welchem die deutschen Kommunisten sprechen, kann nur eines bedeuten: die Vernichtung des Staates.“

Bakunin meinte in allem Ernst, daß er durch diese Worte eine große und originelle Entdeckung mache. In Wirklichkeit steht es damit ganz anders. Zuerst interpretierte er die Bestrebungen der deutschen. Sozialdemokraten in autoritärem Sinne und behauptete, hinter ihrem Programm, speziell hinter der revolutionären Diktatur des Proletariats verstecke sich der Wunsch, einen neuen Staat zu gründen, aufgebaut auf demselben Prinzip der Gewalt, der Herrschaft der Minderheit über die Mehrheit. Bakunin kämpfte energisch gegen dieses Phantom seiner eigenen Einbildungskraft. Es muß indes gesagt werden, daß die Benennung „Volksstaat“ wirklich nicht ganz glücklich gewählt war und zu Mißverständnissen Anlaß gab; doch nur die polemische Begeisterung konnte Bakunin zu seiner Interpretation dieses Wortes veranlassen, an welchem, nebenbei, Marx ganz unschuldig war. Marx und Engels meinten genau ebenso, daß mit der Umwandlung der Gesellschaft auf sozialistischen Grundlagen der Staat im heutigen Sinne verschwinden wird. Marx schrieb zum Beispiel folgendes in einem Privatzirkular des Generalrats über „Die angeblichen Spaltungen in der Internationale“ mit Bezugnahme auf die Bakuninsche Alliance:

„Die Anarchie, das ist das große Paradepferd ihres Meisters Bakunin, der von allen sozialistischen Systemen nur die Überschriften aufgenommen hat. Alle Sozialisten verstehen unter Anarchie dieses: Ist einmal das Ziel der proletarischen Bewegung, die Abschaffung der Klassen erreicht, so verschwindet die Gewalt des Staates, die dazu dient, die große produzierende Mehrheit unter dem Joche einer wenig zahlreichen ausbeutenden Minderheit zu erhalten, und die Regierungsfunktionen verwandeln sich in einfache Verwaltungsfunktionen. Die Alliance greift die Sache am umgekehrten Ende an. Sie proklamiert die Anarchie in den Reihen der Proletarier als das unfehlbarste Mittel, die gewaltigen, in den Händen der Ausbeuter konzentrierten gesellschaftlichen und politischen Machtmittel zu brechen. Unter diesem Vorwand verlangt sie von der Internationale in demselben Augenblick, wo die alte Welt sie zu zermalmen strebt, daß sie ihre Organisation durch die Anarchie ersetze.“

Marx dachte also keinen Augenblick daran, daß der Staat als Zwangsorganisation sich nach der sozialen Umformung erhalten würde; umgekehrt behauptete er direkt, daß der zukünftige Zustand staatslos sein werde. Er warf den Anarchisten nicht den Wunsch vor, den Staat in Zukunft zerstört zu sehen — das war auch sein eigener Wunsch —, sondern den Versuch, das Prinzip der Anarchie sofort, im heutigen Zustand, im Kampfe gegen die konzentrierten und organisierten Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft anzuwenden. Dies ist aber durchaus nicht ein und dasselbe.

Das einzige, worüber Marx und Engels sich mit vollem Rechte lustig machten, war die Dekretierung der Vernichtung des Staates in Worten (erinnern wir uns an die berühmte Proklamation Bakunins und seiner Genossen in Lyon), der Versuch, die Frage umzudrehen und sofort die Aufhebung des Staates zu proklamieren vor der wirtschaftlichen Umformung der Gesellschaft. Nach ihrer Ansicht kann die Vernichtung des Staates nur das Resultat, nicht aber der Anfang der sozialen Umwälzung sein. Außerdem verurteilten sie selbstverständlich aufs entschiedenste diejenigen unmittelbaren praktischen Folgerungen, welche Bakunin aus seinen anarchistischen Prämissen machte, wie zum Beispiel die Beschränkung der Arbeiterbewegung durch rein ökonomische Aufgaben, die Abstinenz des Proletariats von dem politischen Kampfe, das Hineintragen des desorganisatorischen Prinzips der Anarchie in die praktische sozialistische Arbeit.

Von dem Programm der auf dem Eisenacher Kongreß im Jahre 1869 gegründeten deutschen sozialdemokratischen Partei sagt Bakunin, es habe sich durch die Behauptung, daß die Eroberung der politischen Rechte eine notwendig vorhergehende Bedingung der Befreiung des Proletariats sei, in schreienden Widerspruch zu dem Grundprinzip der Internationalen Arbeiterassoziation gesetzt und die bürgerliche Politik zur Grundlage des Sozialismus gemacht, denn „jede vorhergehende Politik, das heißt eine solche, welche dem Sozialismus vorhergeht, kann nur rein bürgerlich sein“; natürlicherweise könne ein solches Programm nur zur Unterwerfung der sozialistischen Bewegung unter den bürgerlichen Radikalismus führen.

Nach allem, was wir oben über seine Ignorierung der Bedeutung der politischen Freiheit und des politischen Kampfes gesagt haben, wird uns diese Folgerung nicht besonders verwundern.

3. Der Putschismus als Kampfesmethode.

Wenn das Ideal Bakunins in der Anarchie bestand, so seine Methode, dieselbe zu verwirklichen, im Putschismus. Er war so sehr von rebellischen Stimmungen durchdrungen, daß er den Geist des Aufruhrs als einen der drei Hauptfaktoren der Geschichte neben die tierische Natur des Menschen und den Gedanken stellte. Wenn er als ein Element der Freiheit die volle Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten in der Gesellschaft ansieht, so betrachtet er als ein anderes solches Element die Rebellion des Menschen gegen jede Autorität, die göttliche wie die menschliche, die kollektive wie die individuelle. Wie er in der Morgenröte seiner politischen Laufbahn das berühmte Prinzip aufgestellt hatte: „Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust“, so verkündete dieser ewige Rebell in seinem letzten großen literarischen Werke, daß ohne die Leidenschaft des Zerstörens die revolutionäre Tat undenkbar und unmöglich sei, „weil es keine Revolution geben kann ohne tiefe und leidenschaftliche Zerstörung, ohne rettende und fruchtbare Zerstörung, denn nur aus ihr und durch ihre Vermittlung erzeugen sich und entstehen neue Welten“.

Bakunin hatte es als seine Lebensaufgabe hingestellt, gegen die demütige Stimmung der arbeitenden Massen anzukämpfen und die Neigung zu aktivem Protest in ihnen zu erwecken. In diesem Sinne hatte er den Kultus Satans proklamiert, den er gleichsam für die Verkörperung und Personifikation des Geistes des Aufruhrs ansah. Der heutige Satan — der unbändige Rebell — ist das revolutionäre Proletariat, welches nach jeder Niederlage mit unbesiegbarer Kraft wieder aufersteht. Bei Bakunin findet sich häufig der Ausdruck „den Teufel im Leib haben“. Er wendet ihn auf Leute an, die vom „satanischen“ Geist des Aufruhrs, „der revolutionären Leidenschaft“ durchdrungen sind.

In allen diesen Worten drückt sich die Idealisierung der Haupteigenschaft des professionellen Revolutionärs aus in derjenigen Gestalt, wie er sich den Augen Bakunins darstellte, welcher selbst ein ausgeprägter Repräsentant dieser jetzt beinahe verschwundenen Spezies war. Die Bereitschaft, jeden Augenblick nicht nur den Bedingungen des friedlichen Daseins zu entsagen, sondern auch seinen Kopf zu wagen im Interesse „der Sache“, die aktive Abweisung des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes, die Entschlossenheit und Energie, die Vorliebe für die allerverzweifeltsten Schritte und Unternehmungen — dies waren die Eigenschaften, die Bakunin vom professionellen Revolutionär verlangte und die er selbst in vollem Maße besaß. Diese Eigenschaften sind es, die er in dem symbolischen Ausdruck „den Teufel im Leibe haben“ vereinigt.

Es ist sehr natürlich, daß Bakunin den Weg der friedlichen Tätigkeit im Interesse der Befreiung des Volkes abweist. „Der andere Weg ist der Weg der Rebellion. An ihn glauben wir und nur von ihm erwarten wir Rettung.“ In bezug auf Rußland meinte Bakunin, das Volk befinde sich schon „in einer solchen verzweifelten Lage, daß es keine Mühe kostet, jedes beliebige Dorf zur Erhebung zu bringen“. Doch auch in bezug auf den Westen hegte er bis zu seiner Enttäuschung in der Revolutionsfähigkeit der europäischen Volksmassen einen solchen revolutionären Optimismus. „Wir befinden uns mitten in der Revolution“ — war er bereit zu sagen nicht nur während des französischen Krieges, sondern in jeder Minute. Und dies ist nicht sonderbar, wenn wir uns erinnern, daß für Bakunin die armselige wirtschaftliche Lage der Volksmassen gleichbedeutend war mit ihrer rebellischen Stimmung und dem revolutionären Zustand des Landes. Das Volk ist — meint er — immer zur Revolution, zur Darbringung aller möglichen Opfer bereit, „da es sehr wenig oder gar kein Eigentum hat, und folglich durch dasselbe nicht verdorben ist“. Für die Revolution ist die Armut der Massen notwendig, ihre Verzweiflung und ein allgemeines Volksideal, der Glaube des Volkes an sein Recht, und dieses Ideal und dieser Glaube sind nach der Überzeugung Bakunins immer im Bewußtsein des Volkes vorhanden.

Da der Aufruhr also immer möglich ist, entsteht die Frage, ob er immer nützlich ist? Bakunin bejaht ohne Schwanken diese Frage. „Jeder Aufruhr,” sagt er, „ist immer nützlich, so erfolglos er immer sein mag.“ Und zwar in zweifacher Hinsicht: erstens lehrt er das Volk, an seine Kräfte zu glauben, und entwickelt seine Energie (daß es sehr häufig gerade umgekehrt ist und fehlgeschlagene, voreilige Aufstände die Ansätze zur Organisation dort, wo sie existieren, zerstören und die Massen mutlos machen, darüber hat Bakunin einfach nicht nachgedacht); zweitens, weil bei einer allgemeinen revolutionären Stimmung des Volkes jeder einzelne Aufruhr unter gewissen günstigen Umständen in einen allgemeinen Volksaufstand, eine Revolution übergehen kann. Im Jahre 1873, nach der Lyoner, Marseiller, Pariser Erfahrung, äußerte er gegenüber dem russischen Anarchisten Debogory-Mokrijewitsch: „Man mag uns einmal, zehnmal, zwanzigmal schlagen, doch wenn beim einundzwanzigstenmal das Volk uns unterstützt, so sind die Opfer nicht verloren.“ Daß nach zwanzig Mißerfolgen das Volk nicht zum einundzwanzigstenmal mitmachen wird, kam Bakunin offenbar nicht in den Kopf. Im Gegenteil, für ihn ist das beständige Vabanque-Spielen viel charakteristischer. „Herr oder verloren!“ spricht er, als er sich nach Lyon aufmacht, mit einem Dekret der Vernichtung des Staates in der Tasche. Und nur nach einer Reihe bitterer Erfahrungen sieht er ein (und auch jetzt noch mit Rückfällen in das Revolutionsfieber), daß man mit dieser Methode schwerlich zum Herrn werden kann.

Die Volksmasse versteht die Ideen nach der Meinung Bakunins nur in konkreter Form aufzufassen. „Sie rechnet mit Tatsachen und nicht mit Worten — sagt er — und verachtet meistens die Worte. Daher muß man sie durch Tatsache und nicht durch abstrakt-logische Folgerungen zu überreden suchen.

Die Revolutionäre23 sollen nicht einzeln, sondern in ganzen Kriegsbanden ins Dorf kommen; am besten ist es, wenn sie aus Arbeitern bestehen, da die Arbeiter von allen Bevölkerungsklassen den Bauern am nächsten stehen. Diese Banden dürfen sich nicht mit der Propaganda durch die Rede begnügen, sondern müssen den Bauern ein anschauliches Beispiel der „sozialen Liquidation“ geben, sie müssen die Staatsgebäude besetzen, die Verwaltungsbeamten absetzen, die Regierungskapitalien konfiszieren, alle offiziellen Papiere und Dokumente, in denen die Ausbeutung des Volkes durch die höheren Klassen festgelegt ist, verbrennen und die Bauern zu einer freien autonomen Organisation auffordern. Dies ist die bakunistische Taktik, die nur zum Teil von den russischen „Buntari” angenommen wurde und fast in vollem Umfang von den italienischen Anarchisten in dem bekannten Beneventer Unternehmen angewandt worden ist.

Auf diese Weise bildete sich die anarchistische Theorie der „Propaganda durch die Tat“, die hauptsächlich auf die bäuerliche Masse zugeschnitten ist; sie durch andere Mittel aufzurütteln, war nach der Meinung der Insurrektionstheoretiker hoffnungslos. Die Aufgabe dieser Taktik bestand in der Erschütterung der Autorität des Staates in den Augen der Menge, in der Aufrüttlung des Volkes zu selbständigem „staatsfeindlichem“ Handeln und vor allem, nach den Worten Bakunins, in der Bildung „eines lebendigen aufrührerischen Bandes zwischen den isolierten Dorfgemeinden“.

Es ist ganz natürlich, daß Bakunin die verschiedenen sozialen Elemente meistens nach dem Gesichtspunkt abschätzte, inwieweit sie zu rebellischen Unternehmungen bereit und aufgelegt waren, je nach der Intensivität ihres aufrührerischen Instinktes. Er war geneigt, auch das Proletariat von diesem spezifischen Standpunkt aus zu beurteilen, und daher ist es verständlich, daß er nicht der Arbeiterintelligenz, die von „bürgerlichem“ Geiste angesteckt sei, sondern dem Lumpenproletariat, als dem zu solchen Rebellionsexperimenten geeignetsten Element, den Vorzug gab. Von demselben Standpunkt aus schätzte er das revolutionäre Bauerntum, das er ebenfalls höher stellte als die Arbeiterintelligenz. Daß Bakunin den „Gamin (Straßenjungen), den Revolutionär und Helden“, diesen tätigen Teilnehmer aller revolutionären Erschütterungen und Straßenkämpfe, auf den Schild erhebt, ginge noch hin; um vor diesem Kinde des Pariser Pflasters sein Haupt zu neigen, braucht man kein Anarchist zu sein. Hat doch auch Viktor Hugo dessen Stirne mit Lorbeer bekränzt. Doch Bakunin geht in seiner Apologie des Rebellentums weiter — bis zur Idealisierung des Räubertums!

Aber als Anhänger von Putschen und aktiven Unternehmungen der entschlossenen Minderheit spricht er sich nicht für individuelle, sondern für von Gruppen ausgeführte Aktionen aus. Sein Putschismus trug einen kollektiven, nicht einen individuellen Charakter. In bezug auf einige persönliche Aktionen terroristischen Charakters sprach er sich direkt ablehnend aus und fand sie für die Volkssache schädlich. Daher darf Bakunin nicht als der Vater derjenigen Anarchisten gelten, die später private Häuser in die Luft sprengen, Bomben in Theatern und Cafés explodieren ließen und Attentate gegen verschiedene administrative Persönlichkeiten vollführten. Für die Taktik solcher rabiater Einzelpersonen hat sich Bakunin nie ausgesprochen.

Bakunin war tief von der Heilsamkeit und Nützlichkeit der aufrührerischen Aktionsmethode überzeugt. Doch zugleich erkannte er die kolossale Bedeutung der Organisation an. „Die Arbeiter sind zahlreich,“ sagte er, „doch die Masse bedeutet nichts, wenn sie nicht organisiert ist.“ Das Mißlingen der Volksbewegungen in Lyon, Marseille und anderen Städten Frankreichs im Jahre 1870/71 erklärte er durch die mangelnde Organisation. Die Massen, meinte er, sind die Macht, jedenfalls das wesentliche Element jeder Macht; doch fehlt ihnen zweierlei, die Organisation und das Wissen, welche gerade die Macht der Regierungen ausmachen. „Also vor allem die Organisation, die übrigens ohne Hilfe der Wissenschaft unmöglich ist. Dank der militärischen Organisation kann ein Bataillon, das aus tausend bewaffneten Menschen besteht, sich einer ganzen Million des Volkes, welches auch bewaffnet, aber unorganisiert ist, widersetzen. Mit Hilfe der bureaukratischen Organisation hält der Staat, nur über einige Hunderttausende von Dienern verfügend, kolossale Länder in Ketten. Um daher volkstümliche Kräfte zu schaffen, die die militärische und zivile Macht des Staates zerdrücken könnte, ist es notwendig, das Proletariat zu organisieren.“ Und wegen dieser Organisation des Proletariats lobt er die Internationale Arbeiterassoziation.

Freilich widersprechen sich die Propaganda der beständigen Putsche, als der allernützlichsten und heilsamsten Sache, und die Aufforderung zur Organisation als einzigem Unterpfand des Erfolges einander auf das entschiedenste. Doch Bakunin dachte darüber nicht nach. Richtiger: er stellte die Frage umgekehrt und meinte, daß gerade im Prozeß der systematischen aktiven Handstreiche sich die geeigneten Persönlichkeiten zusammenfinden, die Keime der Organisation sich bilden und befestigen würden. Die Wirklichkeit hat gezeigt, daß er sich in dieser Hinsicht aufs schwerste täuschte, und die Praxis seiner italienischen Anhänger, die die von ihm rekommandierte Taktik besonders eifrig anwandten, führte dazu, daß die Keime der internationalistischen Organisationen in Italien vollständig zertrümmert wurden, und dies konnte natürlich nur eine entschiedene Reaktion gegen die bakunistischen Kampfesmethoden hervorrufen.

Worin wurzelte die Sympathie Bakunins zu den deklassierten Elementen, die in seinen Konstruktionen eine so bedeutende Rolle spielen? Erstens war er selbst ein vollendetes Exemplar dieser Spezies. Zweitens verlangten sein anarchistisches Programm und seine putschistischen Pläne gerade solche deklassierte Elemente. Außerdem blieb auf diese Einschätzung der deklassierten Intelligenz das Beispiel Rußlands, Italiens und überhaupt der ökonomisch rückständigen Länder nicht ohne Einfluß. In diesen Ländern fehlte das revolutionäre Proletariat, dieser Grundstein und Hauptfaktor der sozialistischen Bewegung, oder es hatte sich wenigstens noch nicht genügend gebildet. In diesen Ländern scheint es nicht bloß so, sondern es sind auch in Wirklichkeit die deklassierten Elemente die hauptsächlichsten; wenn nicht die einzigen Repräsentanten der sozialrevolutionären Bestrebungen. Und selbst wenn die Arbeiterklasse in solchen Ländern an der sozialistischen Bewegung Anteil nimmt, so tritt sie infolge ihrer Kleinheit, Unorganisiertheit, politischen Unerfahrenheit und Unfähigkeit zu selbständiger Tätigkeit unter der Führung und Vormundschaft der revolutionären Intelligenz auf. Auf diese Weise entspricht die Ansicht Bakunins über die Bedeutung und Aufgaben des intellektuellen Proletariats und die hieraus folgende Überschätzung der deklassierten Elemente wiederum vollständig dem Kindesalter der Arbeiterbewegung, an welches, wie wir gesehen haben, überhaupt seine ganze Weltanschauung angepaßt ist.

4. Die nationale Frage.

Von den ersten Schritten seiner politischen Tätigkeit an stieß Bakunin auf die nationale Frage. Es war im Anfang der vierziger Jahre, als noch das Prinzip der Heiligen Allianz wirkte, welches auf die Rechtlosigkeit der Massen in der inneren, auf die Unterdrückung der Nationalitäten in der äußeren Politik gegründet war. Es war die Epoche der nationalen Bestrebungen und des nationalen Dranges, und jeder politisch tätige Mensch mußte sein Verhältnis zur nationalen Frage sich klarmachen. Bei Bakunin komplizierte sich diese Frage noch dadurch, daß er zum Slawentum gehörte, welches erst von seinem Schlafe zu nationalem Leben zu erwachen begann und schon infolge seiner Lage unter den anderen Völkern mit besonderer Empfindlichkeit auf die nationale Frage reagieren mußte. Dadurch erklärt sich zum großen Teil die Tatsache, daß Bakunin sich so früh für die nationale Frage zu interessieren begann und dieses Interesse fast bis zum Ende beibehielt, obgleich er natürlich in seiner letzte Zeit, nach dem Anschluß an die Internationale, dieselbe in anderer Weise löste, als am Anfang seiner politischen Laufbahn.

Bakunin spricht sich entschieden für das Recht jeder Nation auf Selbstbestimmung aus und führt dieses Prinzip bis zu seinen äußersten logischen Konsequenzen durch. Er behauptet, daß jede Nation das Recht habe, sich frei mit jeder anderen Nation zu verbinden und ebenso frei sich von ihr zu trennen, wobei er dieses Recht der Nation, frei über ihr Schicksal zu entscheiden, als das wichtigste aller politischen Rechte anerkennt. Zugleich spricht er sich mit ebensolcher Energie gegen den Patriotismus, die staatliche Größe, den Ruhm usw. aus, ebenso wie gegen das „Prinzip der Nationalitäten“ in derjenigen Form, die damals die Regierungen Frankreichs, Rußlands, Preußens sowie viele polnischen, italienischen und ungarischen Patrioten ihr gaben.

Das Streben zur staatlichen Einheit um jeden Preis, zur Bildung einer großen Nation ist unmenschlich und für die Freiheit tödlich, sagt Bakunin. Die Tendenz der Zeit besteht in der Zerstörung aller großen und kleinen politischen Zentralisationen, die einer auf Kollektivarbeit und allgemeiner Solidarität gegründeten ökonomischen Organisation Platz machen müssen. Dem widerspricht durchaus nicht seine andere Behauptung, daß die Menschheit zur Einheit strebt. Die Einheit wird das unausbleibliche Resultat der ganzen heutigen wirtschaftlichen Entwicklung sein, aber in keinem Falle kann sie durch Gewalttätigkeit einer Nation über eine andere erreicht werden. Mit einem Worte: dem Prinzip der aufgedrungenen Einheit stellt Bakunin das Prinzip des Föderalismus, die freiwillige Vereinigung freier Nationen entgegen.

5. Der Panslawismus.

Es ist natürlich, daß die nationale Frage Bakunin hauptsächlich als die Frage nach dem Schicksal der slawischen Völkerschaften interessierte. Wir hatten schon Gelegenheit zu erwähnen, daß die slawophile Note schon früh in den öffentlichen Erklärungen Bakunins zutage tritt. Freilich ließ er sich niemals zu den slawophilen Übertreibungen Herzens hinreißen. Doch auch er war nicht von vielen typischen Zügen des Slawophilentums frei. Einer von diesen Zügen war die Andichtung unerhörter Vorzüge, die dem Slawentum eigen seien, die Idealisierung seiner primitiven Verhältnisse, die Lobpreisung seiner freiheitlichen, staatsfeindlichen Bestrebungen usw.; ein anderer, der eng mit ersterem zusammenhängt und gleichsam seine Kehrseite bildet, der organische Widerwille gegen die Deutschen, welchen alle negativen Eigenschaften des russischen offiziellen Staatstums in die Schuhe geschoben wurden. Bekanntlich wiederholte Herzen beständig, der Despotismus der Petersburger Periode sei keine russische, sondern eine deutsche Politik; Bakunin blieb in dieser Hinsicht nicht hinter ihm zurück. Er behauptete ebenfalls, daß der russische Staat seinem Geiste nach „gar nicht ein russischer, sondern ein tatarisch-deutscher“, daß die russische Regierung noch mehr deutsch als tatarisch sei und die drei berühmten Säulen des russischen offiziellen Staates (Orthodoxie, Autokratie, Nationalismus) nichts anderes als eine „Ausgeburt der ungeheuerlichen Vereinigung tatarischer Barbarei mit der deutschen politischen Wissenschaft“ vorstellten usw.

Selbstverständlich erbitterte dieser Zug der russischen Revolutionäre die Deutschen aufs heftigste. Im Interesse der Gerechtigkeit müssen wir aber hinzufügen, daß Bakunin sich niemals zu dem Geschwätz vom „faulen Westen“ herabließ, niemals in dem westlichen Leben den bloßen Triumph des „Philistertums“ erblickte und sich darin in vorteilhafter Weise von Herzen unterschied, der die Arbeiterbewegung nicht verstand und an ihr nicht teilnahm, während Bakunin umgekehrt sich tätig daran beteiligte und von ihr die Rettung der Menschheit erwartete. Doch unterliegt es keinem Zweifel, daß der slawische Puls sehr stark in Bakunin schlug, besonders vor dem Eintritt in die Internationale, und bemerkenswert ist,

daß wir auch später Erscheinungen bei ihm antreffen, welche zeigen, daß die soziale Revolution ihn in starkem Maße vom Standpunkt der slawischen Befreiung interessierte.

Dies gibt uns die Möglichkeit, noch einmal den slawischen Urquell des bakunistischen Anarchismus zu verfolgen. Im Programm der slawischen Sektion, die im Jahre 1872 in Zürich gegründet wurde, wird die Annahme des anarchistischen Prinzips unter anderem damit motiviert, da0 „für die slawischen Völker in Besonderheit diese Zerstörung (des Staates) eine Frage über Tod oder Leben und zugleich die einzige Möglichkeit der Versöhnung mit den Völkern anderer Rassen, zum Beispiel dem türkischen, ungarischen oder deutschen, ist“. Bakunin fühlte, daß die Slawen nicht imstande sind, starke Staaten neben den bestehenden zu gründen (Marx versuchte ihm das im Jahre 1848 zu beweisen), und so forderte er denn die slawische Jugend zur Zerstörung des Staates überhaupt auf.

Bakunin einen Panslawisten zu nennen, hieß mit Worten spielen, denn der Panslawismus kurzweg ist ein fest bestimmter Begriff, in welchen sich die Ansichten Bakunins über das Slawentum nicht einfügen ließen und dem sie sogar direkt widersprachen. Bakunin, der in Wirklichkeit sein ganzes Leben gegen das russische Regiment ankämpfte, empörte die Anklage, er sei ein Agent der russischen Regierung, aufs höchste, noch viel mehr als der Vorwurf des Panslawismus. „Ein Partisan des russischen Volkes,“ sagt er in dem „Knuto-germanischen Reich“, „aber nicht ein Patriot des Staates oder Imperiums aller Rußländer, denn ich hasse mehr als sonst jemand dieses Reich.“ Und in dem kurzen Brief an die Redaktion der Zeitung „Reveil“ schreibt er unter anderem: „Ich kann weder ein Parteigänger des Panslawismus noch ein Freund der russischen Regierung oder irgend einer anderen unter den jetzigen Regierungen sein.“

Neuntes Kapitel.
Bakunin und die russischen Angelegenheiten. Netschajew«.

Wir fahren nun in unserer Darstellung fort.

Im Oktober 1869 beschloß Bakunin, Genf zu verlassen. Dazu bewog ihn die Schwangerschaft seiner Frau sowie die Notwendigkeit, einen Ort mit billiger Lebenshaltung aufzusuchen, da seine Mittel sehr geschwächt waren. Außerdem wollte er sich in die Einsamkeit zurückziehen, um sich der Übersetzungsarbeit zu widmen und vor allem der Übersetzung des ersten Bandes von Marx’ „Kapital“, der im Jahre 1867 erschienen war. Ein gewisser Ljubawin, damals Student in Deutschland, später Professor in Rußland, hatte ihm diese Übersetzung für den russischen Verleger Poljakow vermittelt.

Bakunin sollte für die ganze Arbeit 1200 Rubel erhalten (was kein hoher Preis, wenn man den Umfang und die Schwierigkeiten des zu übersetzenden Buches in Betracht zieht), wovon 300 Rubel ihm im voraus ausbezahlt wurden. Am Anfang ging es mit der Übersetzung schwer, doch nachher begann die Arbeit rascher vorwärts au gehen. Doch mischte sich in diese Sache plötzlich Netschajew.

Netschajew kam im März 1869 nach den Studentenunruhen in Rußland nach Genf. Er bezauberte Bakunin sofort. Letzterer glaubte immer noch wie früher an die Möglichkeit der Organisation eines Bauernaufstandes in Rußland, und das Erscheinen Netschajews, welchen er für die, erste Schwalbe dieser Bewegung ansah, versetzte ihn in Entzücken. Netschajew fesselte Bakunin durch seine wilde Energie und seine Hingabe an die Interessen des Volkes. Seine schlimmen Eigenschaften bemerkte Bakunin erst viel später.

Netschajew gab sich für den Agenten eines revolutionären Komitees aus, das angeblich in Rußland wirken sollte. Bakunin glaubte an das Vorhandensein dieses Komitees und war so sehr von Netschajew hingerissen, daß er letzterem eine Unterschrift einhändigte, in welcher er sich bedingungslos in den Dienst dieses Komitees stellte. Außerdem wollte Bakunin ihn zum Vertreter des russischen Zweiges seiner Alliances machen und gab ihm die entsprechenden Vollmachten. Mit dieser Bescheinigung kam Netschajew nach Moskau und organisierte dort eine geheime Gesellschaft, indem er die Angeworbenen versicherte, in Rußland bestehe eine umfangreiche revolutionäre Verbindung, als derer Vertreter er sich ausgab. Zweifellos machte das ihm von Bakunin eingehändigte Dokument einen großen Eindruck auf die Russen und förderte seine Pläne. Netschajew griff in seiner Tätigkeit zu den allerverwerflichsten Mitteln, zu Gewalttätigkeit und Betrügerei. Als er auf Opposition von seiten des Studenten Iwanow stieß, welcher Argwohn gegen ihn geschöpft, überredete Netschajew einige Genossen, denselben als Verräter zu töten. Diesem sinnlosen Mord folgte die Zertrümmerung der Organisation, doch gelang es Netschajew, ins Ausland zu entkommen. Zuletzt wurde er von der Schweizer Polizei verhaftet und an Rußland als gemeiner Verbrecher ausgeliefert. Während der Untersuchung und in der Festung offenbarte er eine unbeugsame Energie und rehabilitierte sich bis zu einem gewissen Grade; doch all die Umstände des Netschajewschen Prozesses machten einen abstoßenden Eindruck auf die russische revolutionäre Jugend und schädigten das Ansehen Bakunins, welcher ein Opfer seiner Vertrauensseligkeit und Naivität geworden war. Endgültig öffneten sich Bakunin die Augen über Netschajew, als es sich erwies, daß Netschajew die Absicht hatte, in der Schweiz eine Expropriationsbande zu organisieren.

Dieser selbe Netschajew spielte Bakunin noch folgenden Streich. Anfangs 1870 nach der Schweiz zurückgekehrt, überredete er Bakunin, sich von der Übersetzung des ersten Bandes des „Kapital“ loszusagen, um alle seine Kräfte der russischen Propaganda weihen zu können. Was die 300 Rubel Vorschuß, die Bakunin erhalten hatte, beträfe, so wolle er, Netschajew, diese Sache persönlich erledigen. Bakunin konnte das so verstehen, daß Netschajew das Geld dem Verleger zurückerstatten werde. Doch statt mit letzterem einen gütlichen Vergleich einzugehen, wandte sich Netschajew unter Benutzung eines Briefbogens des revolutionären Komitees, auf welchem ein Beil, ein Dolch und ein Revolver abgebildet waren, an den Vertreter des Verlegers Poljakow, Ljubawin, und verbot ihm, von Bakunin die Rückerstattung des Geldes zu verlangen, mit der Todesandrohung im Falle der Übertretung dieses Verbots. Von diesem albernen Vorgehen Netschajews erfuhr Bakunin erst aus einem groben Briefe Ljubawins, was ihn natürlich gegen Netschajew aufbrachte. Übrigens war Bakunin außerstande, das Geld zurückzugeben. Dieser Vorfall bereitete ihm große Unannehmlichkeiten. Erstens war er der Möglichkeit beraubt, Übersetzungsarbeit von russischen Verlegern zu erhalten, zweitens, was viel schlimmer, sandte Liubawin den Netschajewschen Brief auf Verlangen an Marx, der jetzt annehmen konnte, Bakunin habe an der Absendung dieses Briefes Anteil genommen. Marx legte den Brief der Untersuchungskommission des Haager Kongresses vor, was bekanntlich zu dem Ausschluß Bakunins aus der Internationale „wegen einer ehrlosen Handlung“ führte.

Überhaupt hat Bakunin in dieser ganzen Geschichte eine rein kindliche Naivität und einen unglaublichen Leichtsinn an den Tag gelegt. Es ist einfach unbegreiflich, wie ein im Grunde genommen ungebildeter junger Mensch sich in solchem Grade den Verstand und den Willen des alten Revolutionärs unterwerfen konnte, der nebenbei glaubte, dabei der „russischen Sache“ zu dienen.

Doch Bakunin wäre nicht Bakunin gewesen, wenn er wegen zeitweiliger Mißerfolge den Mut hätte sinken lassen. Es ist wahr, in der Geschichte mit Netschajew spielt Bakunin keine besonders präsentable Rolle, doch lassen sich die Worte des Dichters auf ihn anwenden:

„Passiert's dem Adler wohl auch mal, dem Huhn zu gleichen,
Doch nie dem Huhn, die Wolken zu erreichen.“

Und Bakunin sollte bald zeigen, daß er ein Adler geblieben war, der sich in die Wolken zu erheben verstand.

Zehntes Kapitel.
Bakunin während des Deutsch-Französischen Krieges. Die Versuche eines Aufstandes in Lyon und Marseille. Die Kommune. Die slawische Sektion der Internationale. Der Kampf gegen die Anhänger Lawrows. Der Ausschluß Bakunins aus der Internationale. Die Ankündigung seiner Zurückziehung von der öffentlichen Tätigkeit.

Der Deutsch-Französische Krieg war ausgebrochen, Bakunin verfolgte mit tiefstem Interesse, ja sogar mit Aufregung alle Wechselfälle desselben, da er, wie er meinte, zu einer sozialen Revolution führen könnte. Er sah mit Schrecken den Sieg der deutschen Waffen, denn die Zertrümmerung Frankreichs durch das militärisch-feudale Deutschland kam nach seiner Ansicht dem Triumph der Konterrevolution gleich, welche auf Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte den Sieg der Volkssache hinausschieben könne. Diesem traurigen Ausgang konnte nur entgegengewirkt werden, wenn man sich an die französischen Volksmassen wandte und sie zum Kampfe nicht nur gegen die ausländischen Eroberer, sondern auch gegen die eigenen Tyrannen aufrief. In einem Brief an Albert Richard (in Lyon) beschwört er seine französischen Freunde, ohne Aufschub die Erhebung der Massen gegen die äußeren und inneren Feinde zu bewirken, ohne das Signal aus Paris abzuwarten, welches betrogen und durch die ihm drohende Gefahr paralysiert sei. „Wenn es in zehn Tagen in Frankreich keinen Volksaufstand gibt, ist das Land verloren (geschrieben am 23. August). O, wenn ich jung wäre, würde ich keine Briefe schreiben, sondern unter Euch sein.“

Bakunin war entrüstet über die Nachrichten, daß das französische Proletariat sich indifferent zur Invasion der Deutschen verhalte. „O,“ rief er aus, „wenn es sich um das Eindringen einer proletarischen Armee aus Deutschen, Engländern, Spaniern, Italienern handeln würde, die das Banner des revolutionären Sozialismus entrollen und der Welt die endgültige Befreiung der Arbeit verkünden wollte, würde ich als erster den französischen Arbeitern zurufen: ‚Öffnet die Arme, das sind eure Brüder, und vereinigt euch mit ihnen, um die Überbleibsel der bürgerlichen Welt vom Angesicht der Erde hinwegzufegen!‘ Doch die Invasion, die jetzt Frankreich entehrt, ist eine aristokratische, monarchische, militärische Invasion. … Wenn die französischen Arbeiter angesichts einer solchen Invasion passiv bleiben, würden sie nicht nur ihre eigene Freiheit, sondern auch die Sache des internationalen Proletariats, die heilige Sache des revolutionären Sozialismus verraten.“

Der Sinn aller Briefe und Sendschriften Bakunins an seine französischen Gesinnungsgenossen bestand darin, daß Frankreich nur durch die Anarchie zu retten sei. Er bestritt aufs entschiedenste, daß die revolutionäre Agitation und innere Unruhen die Widerstandskraft der Nation dem äußeren Feinde gegenüber paralysieren könnten. „Die Geschichte lehrt uns, daß die Nationen niemals so machtvoll nach außen hin auftreten können als dann, wenn sie sich innerlich tief aufgewühlt und erschüttert fühlten, und umgekehrt niemals so schwach waren als dann, wenn sie unter irgend einer Herrschaft und unter irgend einer Ordnung vereinigt waren. Und das ist sehr natürlich, denn Kampf ist Leben, und Leben ist Kraft.“ Von den inneren und äußeren Todesgefahren, die Frankreich drohen, kann es nur gerettet werden „durch einen elementaren, machtvollen, leidenschaftlich-energischen, anarchistischen, zerstörerischen und wilden Aufstand der Volksmassen auf dem ganzen Territorium Frankreichs“.

Als Mann der Tat, nicht nur des Wortes, wollte Bakunin unmittelbar an den Versuchen, eine Volksbewegung in Frankreich hervorzurufen, teilnehmen. Am 9. September 1870 verließ er Lokarno und wandte sich über Bern nach Lyon, wo er am 15. September anlangte. Es wurde ein „Zentralkomitee der Rettung Frankreichs“ gebildet, an dessen Verhandlungen Bakunin lebhaft teilnahm. Eine Reihe von öffentlichen Versammlungen fand statt, auf welchen die extremsten Entscheidungen gefaßt wurden. Am 26. September verkündete ein roter Anschlag, der von den Delegierten von Lyon, Saint-Etienne und Marseille sowie von Bakunin unterschrieben war, an allen Mauern Lyons das Programm der in Vorbereitung sich befindenden Volksbewegung.

Am 28. September brach in Lyon eine Volksbewegung aus, die das Rathaus in die Hände der Revolutionäre fallen ließ. Doch der Verrat des Generals Cluseret und das feige Benehmen einiger an dem Unternehmen teilnehmender Personen ermöglichte einen leichten Sieg der Nationalgarde über diese Bewegung. Vergebens rieten Bakunin und einige seiner Freunde, entschiedene Maßregeln zu ergreifen, die Vertreter der Regierung zu arretieren. Das revolutionäre Komitee mußte das Rathaus verlassen. Bakunin selbst wurde von der Nationalgarde gefangen genommen, und nur durch eine Abteilung freier Schützen, die zu Hilfe eilten, gelang es, den alten Revolutionär zu befreien. Lyon verlassend, schrieb Bakunin folgenden Brief an Palix, bei dem er einquartiert war:

„Mein lieber Freund! Ich möchte nicht aus Lyon wegfahren, ohne Dir das letzte Lebewohl zu sagen. Die Vorsicht hindert mich, zu Dir zu kommen und Dir zum letztenmal die Hand zu drücken. Ich habe hier nichts mehr zu tun. Ich kam nach Lyon, um mit Euch zu kämpfen oder zu sterben. Ich kam, weil ich tief überzeugt bin, daß Frankreichs Los in dieser großen Stunde, wo es sich um Sein oder Nichtsein dieses Landes handelt, wieder die Sache der ganzen Menschen geworden ist. … Ich habe an der gestrigen Bewegung teilgenommen und meinen Namen unter die Resolutionen des Komitees der Rettung Frankreichs gesetzt, da es für mich augenscheinlich ist, daß nach der faktischen Zerstörung der administrativen und Regierungsmaschinerie nur die unmittelbare revolutionäre Aktion des Volkes Frankreich retten kann. …

Lieber Freund! Ich verlasse Lyon in tiefer Trauer und mit finsteren Vorgefühlen. Ich fange an zu glauben, daß Frankreich verloren ist. Es wird zu einem Vasallenstaat Deutschlands werden. … An die Stelle seines reellen Sozialismus wird der doktrinäre Sozialismus der Deutschen treten, welcher nur das sagen wird, was ihm die preußischen Bajonette zu sagen erlauben werden. … Die bureaukratische und militärische Vernunft Preußens im Bündnis mit der Knute des Petersburger Zaren werden die Ruhe und öffentliche Ordnung auf dem ganzen Kontinent wenigstens auf fünfzig Jahre hinaus sicherstellen. Ein Lebewohl der Freiheit, dem Sozialismus, der Gerechtigkeit gegen das Volk und dem Triumph der Humanität! Denn alles dieses hätte aus der jetzigen Zertrümmerung Frankreichs hervorgehen können, und es wäre hervorgegangen, wenn das französische Volk und das Volk Lyons es gewollt hätten.“

Durch den Mißerfolg der Lyoner Bewegung erhielt der Optimismus Bakunins den ersten harten Schlag. Der Aufstand der Kommune erweckte neue Hoffnungen in ihm, doch die Zertrümmerung derselben überzeugte ihn endgültig davon, daß eine unmittelbare soziale Revolution (und mit weniger wollte er sich nicht begnügen) hoffnungslos sei. Von diesem Augenblick an beginnt eigentlich die seelische Krise Bakunins.

Die reaktionäre Presse überschüttete Bakunin mit Verleumdungen deswegen, weil er als Fremdling dem französischen Volke zu Hilfe geeilt (dasselbe Los traf übrigens auch Garibaldi, der seinen ruhmvollen Degen Frankreich angeboten hatte). Leider ließen sich auch in der sozialdemokratischen Presse spöttische Stimmen hören, was er durch seinen Versuch wahrlich nicht verdient hat. Selbstverständlich können und müssen diejenigen, die die anarchistischen Ansichten Bakunins und seiner Anhänger nicht teilen, sich kritisch zu seinen grundlosen Hoffnungen verhalten. Doch abgesehen davon war sein damaliges Auftreten ein mutiger Versuch, die eingeschlafene Energie des französischen Proletariats zu wecken und sie gleichzeitig gegen den äußeren Feind und gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu richten. Ungefähr dasselbe versuchte später die Kommune, welche Marx bekanntlich warm begrüßte. Für uns ist es nur wichtig, zu unterstreichen, daß Bakunin als richtiger Weltbürger mit seiner Hilfe dorthin eilte, wohin ihn nach seiner Meinung die Interessen der internationalen Revolution riefen. So handelte er im Jahre 1848/49 in Deutschland, so versuchte er auch in Frankreich zu handeln.

Aus Lyon wandte sich Bakunin nach Marseille, wo er sich einige Zeit in der Umgegend verborgen hielt. Er rechnete auf eine Volksbewegung daselbst und hatte allem Anschein nach auch die Hoffnung auf einen neuen Ausbruch einer solchen in Lyon noch nicht endgültig verloren. Doch Marseille und Lyon regten sich nicht, und der von Bakunin nach Lyon gesandte Pole Lankewitsch wurde arretiert und ein Verzeichnis bei ihm gefunden, das die Namen aller Lyoner Freunde enthielt (das ewige Unglück Bakunins!). Es folgten zahlreiche Verhaftungen, und Bakunin verlor die letzte Hoffnung auf eine baldige neue Bewegung.

Am nächsten Tage (dem 24. Oktober) fuhr Bakunin per Schiff nach Genua, nachdem er vorher sein langes Haar und seinen Bart abgeschoren und seine Augen durch eine blaue Brille verdeckt hatte. Als er sich so im Spiegel angesehen, meinte er mürrisch: „Die Jesuiten haben mich gezwungen, ihren Typus anzunehmen.“

Am 27. Oktober kam er nach Lokarno und setzte sich sofort an eine neue Arbeit: „Die soziale Revolution und die Militärdiktatur“, welche als Fortsetzung seiner „Briefe an einer Franzosen“ gedacht war. Dieses Werk, das Bakunin als sein Vermächtnis ansah, wurde stückweise in freien Augenblicken geschrieben und ist unvollendet geblieben: im Jahre 1871 wurde der erste Teil unter dem Titel: „Das knuto-germanische Reich und die soziale Revolution“ gedruckt. In dieser Arbeit sind seine Ansichten über die Entwicklung der Menschheit, die Philosophie, die Religion, den Staat und die Anarchie vollständiger und systematischer — wenn von System in bezug auf Bakunins Schriften gesprochen werden kann — als anderswo niedergelegt. Es ist traurig, daß die Veröffentlichung dieses Werkes wegen der Unmöglichkeit, die Mittel zur Herausgabe des zweiten Teiles aufzubringen, eingestellt werden mußte.

Das in diese Zeit (das erste Drittel des Jahres 1871) fallende Tagebuch Bakunins ist voll von Hinweisen auf die elende materielle Lage, in der er sich befand. Seine Brüder halfen ihm nicht, und es gab Tage, wo er nicht mehr als fünf Centimes in seiner Tasche hatte und der kranke Greis ohne Tee blieb. In jener Zeit schrieb seine Frau an einen Bekannten: „Michael Bakunin befindet sich in sehr niedergedrückter Stimmung; er sagt: ‚Was ist zu machen? Ich bin zu alt, um anzufangen, mein Brot zu verdienen, und ich habe nicht mehr lange zu leben.‘ Die materielle Lage drückt ihn derart nieder, daß er seine Energie verliert und sich moralisch zerstört; und das alles, nachdem er sein ganzes Leben der Sache der Freiheit und der Menschheit gewidmet, ohne an sich selbst zu denken! Seine Brüder blieben die ganze Zeit teilnahmlos und tatlos — bis zum Verbrechen; Michael Bakunin denkt daran, seine Brüder zu zwingen, ihm seinen Teil der Erbschaft herauszugeben.“


In dem allgemeinen Chor der Verleumder der Internationale und der Kommune hatte auch Mazzini, der Veteran der italienischen patriotischen Bewegung es für nötig befunden, seine Stimme zu erheben. Daraufhin schrieb Bakunin seine bekannte „Antwort eines Internationalisten an Mazzini“, welche im August 1871 erschien, und zwar in italienischer und französischer Sprache zugleich. Ihr folgte die Broschüre „Die politische Theologie Mazzinis und die Internationale“, deren erste Lieferung in demselben Jahre (1871) gedruckt wurde. Diese Schriften verstärkten den Einfluß Bakunins auf die italienischen Revolutionäre und gaben den Anstoß zu der Bildung zahlreicher internationaler Sektionen, die übrigens vom Geiste des Bakuninschen Anarchismus und Insurrektionstheorie infiziert waren.

Unterdessen hatte der Kampf zwischen Marxisten und Bakunisten in der Internationale nicht aufgehört und nahm einen immer schärferen Charakter an. Die alte Genfer Sektion der Alliance hatte sich für aufgelöst erklärt und zusammen mit einigen Emigranten, gewesenen Kommunarden, eine neue Sektion „der sozialrevolutionären Propaganda und der Tat“ gegründet; der Generalrat verweigerte ihr jedoch den Eintritt in die Internationale. Die dem Generalrat feindlichen Sektionen vereinigten sich auf dem Kongreß von Sonvillier (am 12. November 1871) zur Juraföderation, welche der Mittelpunkt der bakunistischen Agitation gegen den Generalrat wurde, und erließen das bekannte Rundschreiben an die Sektionen der Internationale, welches sie zum Kampfe gegen „die autoritären Gepflogenheiten“ des Generalrats und zur Verteidigung ihrer unbegrenzten Autonomie aufruft. Bakunin nahm dieses Rundschreiben enthusiastisch auf und suchte es auf jede Weise unter den italienischen Internationalisten zu verbreiten. Da der Generalrat Bakunin für den Haupturheber alles Haders ansah und offenbar meinte, ohne das Eingreifen dieser hervorragenden Persönlichkeit hätten sich die vereinzelten Sektionen anarchistischer Richtung niemals zu einer einheitlichen Macht vereinigen können, erließ er im Mai 1872 gegen Bakunin die bekannte konfidentielle Mitteilung, die als Broschüre unter dem Titel „Die angeblichen Spaltungen in der Internationale“, verbreitet wurde. Über die gegen seine Persönlichkeit gerichteten Angriffe aufgebracht, schrieb Bakunin über diese Broschüre an seine Freunde: „Das Schwert des Damokles, mit welchem man so lange gedroht, hat sich endlich auf mein Haupt gesenkt; doch die Wahrheit zu sagen, es ist kein Schwert, sondern die gewöhnliche Waffe des Herrn Marx — ein Kübel Spülwasser.“

Im Frühjahr 1872 reiste die Gattin Bakunins mit den Kindern nach Rußland, er selbst aber zog nach Zürich, wo er den Sommer und Herbst zubrachte.

In Zürich befanden sich in dieser Zeit einige hundert russische Studenten und Studentinnen. Die große Mehrzahl derselben bekannte sich zur anarchistischen Theorie und schloß sich an Bakunin an. Es begannen heftige Streitigkeiten zwischen Bakunisten und Lawristen, den Anhängern des Emigranten Lawrow,24 welcher freilich auch die Zerstörung des Staates als Endziel der sozialistischen Bewegung ansah, aber die Propaganda sozialistischer Ideen im Volke und die allmähliche Vorbereitung der arbeitenden Massen für die soziale Revolution in den Vordergrund rückte. Die Bakunisten dagegen befürworteten gewaltsame Insurrektionsmethoden. Aus den Reihen dieser russischen Jugend ging später eine große Anzahl russischer Revolutionäre hervor, und in nicht geringem Maße durch ihre Vermittlung erhielten die Bakuninschen Ideen eine große Verbreitung in Rußland, wo sie lange Zeit vorherrschend waren.

Unterdessen war der Haager Kongreß zustande gekommen, auf welchem Bakunin ausgeschlossen wurde. Die russischen Emigranten, welche Bakunin anhingen, veröffentlichten am 4. Oktober 1872 einen Protest gegen diesen Ausschluß und besonders gegen seine Motive.

„Bakunin, der sich im Oktober 1872 wieder in Lokarno niedergelassen hatte, ging im September 1873 nach Bern zu seinem Freunde Adolf Vogt. Während dieses Aufenthaltes kam es zu vollständigem Bruche mit einer Gruppe russischer Anarchisten. All das Gezänk sowie die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, der Ausschluß aus der Internationale (er gab sich freilich den Anschein, als ignoriere er ihn, doch in Wirklichkeit mußte ihn derselbe empfindlich kränken), die Enttäuschung in der nahen Revolution, endlich das Alter und die Kränklichkeit, die sich immer stärker bemerkbar machten — das alles veranlaßte Bakunin, die öffentliche Tätigkeit aufzugeben, um den Rest seiner Tage im Kreise seiner Familie und nahen Freunde zu verbringen. Er benutzte das Erscheinen zweier Artikel im „Journal de Genève“, die seinen Namen erwähnten, und wandte sich in einem Briefe an diese Zeitung, in welchem er seinen Entschluß, sich ins Privatleben zurückzuziehen, ankündigte.

Einige Tage darauf schrieb Bakunin einen Abschiedsbrief an seine schweizerischen Gesinnungsgenossen, in welchem er sie von seinem Austritt aus der Juraföderation und der Internationale benachrichtigte.

Als dieser Brief erschien, sahen ihn die nächsten Freunde Bakunins für eine bloße Kriegslist an; sie dachten, daß Bakunin, indem er sich für einen ermüdeten, nach Ruhe lechzenden Revolutionär ausgab, nur den Plan zur Ausführung brachte, der zwischen ihm und Cafiero zu größerer Sicherstellung der italienischen revolutionären Konspirationen vereinbart war. Doch bald sollte es sich zeigen, daß Bakunin seine wirkliche Stimmung ausgedrückt hatte, daß er sich in der Tat anschickte, in den Ruhestand zu treten.

Elftes Kapitel.
Das Leben in Lokarno. Der Vorfall mit der „Baronata“ und der Bruch mit den jungen Anhängern. Die Zurückziehung nach Lugano. Krankheit und Tod.

Den intimen Freunden Bakunins war bekannt, daß im Winter 1872/73 zwischen Cafiero und Bakunin die Verabredung getroffen worden war, daß auf den Namen des alten Revolutionärs ein Landgut gekauft werden sollte, welches als Zufluchtsort für die italienischen Revolutionäre zu dienen habe. Die Mittel zu diesem Unternehmen erbot sich Cafiero zu liefern, der nach dem Tode seines Vaters ein bedeutendes Vermögen geerbt hatte. Zu diesem Zwecke wurde für Bakunin das Landgut „Baronata“ erworben, das am Wege zwischen Lokarno und Bellinzona am Ufer des Lago Maggiore gelegen war. In diesem Hause sollte eine geheime Druckerei und ein Waffendepot eingerichtet werden in Anbetracht der von den italienischen Bakunisten vorbereiteten revolutionären Erhebungen.

Dieses Beginnen endete für Bakunin sehr tragisch. Die Sache war die, daß der alte Revolutionär, von physischem Unwohlsein geplagt und durch das Fehlschlagen seiner revolutionären Unternehmungen niedergedrückt, wirklich müde war und das Anerbieten seines glühenden Anhängers und Freundes dazu benutzen wollte, um für sich und seine Familie ein ruhiges Heim zu gründen, ohne dabei aufzuhören, nach Kräften der Revolution zu dienen. Obgleich er nicht mehr wie früher die Hoffnung auf eine nahe soziale Revolution hegte, weigerte er sich dennoch nicht, an neuen revolutionären Unternehmungen teilzunehmen, und schwärmte dafür, seine lange revolutionäre Laufbahn auf den Barrikaden zu beenden. Wie Simson zu sterben — das war der Traum Bakunins. Im Sommer 1873, als die spanische Revolution, wie es schien, triumphieren sollte, dachte Bakunin persönlich nach Spanien zu gehen, um dort Hand in Hand mit seinen Schülern zu kämpfen.

Bald überzeugte er sich jedoch von dem Fehlschlagen der spanischen Revolution, und so mußte er sein Hoffnungen nach Italien verlegen, wo, wie es ihm schien, Symptome einer revolutionären Gärung sich zeigten. Er meinte nur, man müsse vorderhand im stillen handeln und die Maske friedlicher, wohlhabender Bourgeois anlegen. Nachdem er sich in Baronata niedergelassen, begann Bakunin, der überhaupt mit Geld nicht umzugehen verstand, rechts und links mit demselben um sich zu werfen, neue Bauten errichtend, Brunnen und Teiche grabend, Wege anlegend usw. Cafiero, der nicht weniger unpraktisch war als sein alter Freund, stimmte allen seinen Plänen zu und ging sogar noch weiter, während Bakunin zuweilen zu begreifen begann, daß die ganze Geschichte mit einem großen Krach enden würde und, und gegen allzu große Ausgaben protestierte.

Ungefähr 100 000 Franken waren für die Verbesserung Baronatas ausgegeben. Die Erbschaft Cafieros erwies sich geringer, als er gedacht, um so mehr, als er gezwungen war, sie rasch zu realisieren. Die Sache endete so, wie man hätte voraussehen können. Gute Freunde begannen davon zu reden, daß Bakunin seinen jungen Freund in persönlichem Interesse exploitiere. Bald kam auch Cafiero zu dem Schlusse, daß Bakunin viel mehr die Interessen seiner Familie, deren Ankunft er stündlich erwartete, im Auge habe als diejenigen der italienischen Revolution.

Unterdessen war die Frau Bakunins mit ihren drei Kindern sowie mit ihrem altersschwachen Vater und ihrer Mutter und einer ihrer Schwestern, Losowskaja, aus Kraßnojarsk abgereist und kam am 13. Juli 1874 in Baronata mit den Kindern und dem Vater an. Kurz danach traf auch Cafiero mit den letzten ärmlichen Resten der Erbschaft ein. Zwischen ihm und Bakunin gab es nun eine unliebsame Auseinandersetzung, die mit einem vollständigen Bruch endigte. Jetzt befand sich Bakunin in der schlimmsten Lage. Er hatte ja seine Familie kommen lassen, indem er sie versicherte, das neue Landgut gehöre ihm und sie könnten jetzt zusammen in vollem Wohlbehagen und in Ruhe leben. Andererseits drückte ihn der Gedanke, daß die jungen Genossen ihm die niedrigsten Beweggründe zuschrieben und ihn als einen „alten Wisch“ ansahen, „den man wegwerfen müsse“. Der in Verzweiflung geratene alte Kämpfer dachte zum erstenmal an Selbstmord. Er wußte nicht, wie er seine Frau auf den schrecklichen Schlag vorbereiten sollte und wie er sich mit Ehre aus der schwierigen Lage retten könne.

In diese Periode fällt die allerschwerste Seite der Lebens- und Leidensgeschichte des alten Kämpfers. Er beschloß zu sterben, da der Tod für ihn der erwünschteste Ausgang aus den sich häufenden Mißverständnissen wäre. Doch die jungen Genossen legten in ihrem Verhalten zu ihm eine schreckliche Grausamkeit an den Tag, die sich nur durch ihre Jugend erklären läßt. Sie beachteten den furchtbaren Gemütszustand Bakunins gar nicht und waren bereit, den verdienten Greis auf dem Altar ihrer putschistischen Unternehmungen zu opfern. Damals wurde in Italien ein Aufstand vorbereitet, und die Freunde zogen Bakunin in die Sache hinein, so daß er sie später anklagte, sie hätten ihn mit Gewalt gezwungen, an dieser riskanten Expedition teilzunehmen.

Der Gedanke, daß er vielleicht den letzten revolutionären Akt seines Lebens nicht aus freiem Willen, sondern gezwungen vollbringen sollte, drückte Bakunin besonders; doch er hielt dies für eine verdiente Strafe. Er mußte jetzt seinen Fehler teuer bezahlen. Bakunin entschloß sich, oder vielleicht wäre es besser, zu sagen: Bakunin mußte sich entschließen, nach Bologna zu fahren, welches als einer der Mittelpunkte des vorbereiteten Aufstandes gedacht war. An diesem Aufstand, dessen allgemeines Ziel der Sturz der Monarchie war, sollten neben den Internationalen auch einige Mazzinianer und Garibaldianer teilnehmen. Es war ihm nicht beschieden, auf der Barrikade zu sterben, wie er hoffte. Der Aufstand mißglückte gänzlich. Ein Teil der Mazzinisten wurde noch vor dem Beginn in einer Versammlung arretiert; die Tausende von Internationalen aus der Romagna waren nicht erschienen, und die in geringer Zahl zusammengekommenen Insurgenten wurden teils gefangen genommen, teils liefen sie auseinander. Bakunin, der das verabredete Signal vergebens erwartete, begriff, daß das Unternehmen gescheitert war. Er hoffte, daß es vielleicht noch gelingen werde, eine Bewegung in Florenz zu entfesseln, und dachte daran, sich dorthin zu begeben. Sogar in dieser schrecklichen Stunde, von dem Gedanken an den Schlag, der seine Frau treffen sollte, zerfleischt, vergaß er die Interessen der revolutionären Sache nicht und verabredete mit dem ihm beigegebenen Genossen Natta eine Geheimschrift und symbolische Zeichen.

Aus Bologna fuhr Bakunin, als katholischer Pater verkleidet, nach Splügen. Am 6. August wurde Bakunins Frau trocken mitgeteilt, Baronata gehöre nicht Bakunin, sondern der Revolution; sie wurde aufgefordert, die Wohnung zu räumen. Drei Tage darauf reiste sie nach Arona, wohin sie unverzüglich ihre Schwester Losowskaja aus Warschau zitierte. Als die letztere endlich erfahren hatte, daß sich Bakunin in Splügen aufhalte, fuhr sie zu ihm. Hier erklärte Bakunin, daß ihm jede öffentliche und konspiratorische Tätigkeit endgültig zuwider sei und daß er nach Amerika auswandern und sich dort naturalisieren wolle; er äußerte dabei die Hoffnung, daß Cafiero ihm hierzu die Mittel verschaffen werde. In Siders kam am 23. September die Zusammenkunft Bakunins mit Cafiero zustande. Das Rendevouz war kühl und führte zum endgültigen Bruche.

Bis zum 23. September weilte Bakunin in Siders, wo er das Verhältnis zu seiner Frau zu ordnen suchte, welche unterdessen nach Lugano übergesiedelt war. Am 25. September fuhr er nach Neuchâtel (Neuenburg), wo er noch eine Auseinandersetzung mit seinen Anhängern hatte. Die letzteren kamen, nach einem Bericht Guillaumes, zu der einmütigen Überzeugung, daß Bakunin, den sie liebten und zu lieben fortfuhren, in der Sache mit der „Baronata“ einen unverzeihlichen Leichtsinn und Schwäche an den Tag gelegt habe. Die früheren Genossen Bakunins hatten dabei noch die Taktlosigkeit, ihm eine monatliche Rente von 300 Franken anzubieten; selbstverständlich wies Bakunin dies Anerbieten zurück und erklärte sich nur einverstanden, bei Cafiero auf Wechsel 3000 Franken zu leihen mit der Bürgschaft von seinem jungen Freunde Bellerio und noch irgend einer zahlungsfähigen Person.

Bakunin fuhr nach Lugano, wo er sich mit seiner Familie niederließ. Er lebte sich bald in die neue Lage ein, hoffte aber immerfort auf die nahe Besserung seiner materiellen Verhältnisse. Cafiero gab ihm die versprochenen 3000 Franken nicht. Sophie Losowskaja fuhr dagegen mit einer Vollmacht von Bakunin nach Rußland, um von den Brüdern die Auszahlung eines Teiles der Erbschaft zu erwirken. Bakunin erwartete, nicht weniger als 100 000 Rubel zu erhalten.

Um diese Zeit ließ sich Bakunin durch neue Pläne hinreißen. Da er auf baldige Geldsendung aus Rußland rechnete, kaufte er auf Kredit unweit von Lugano die Villa Besso mit einem großen Stück Land. Bakunin wollte in seinen alten Tagen Gärtner werden; er begann mit der ihm eigenen Phantasie die unmöglichsten Pläne auszuhecken. Er beschaffte sich eine Masse Bücher über intensive Kultur und Düngung des Bodens; unter der Anleitung irgend eines Professors begann er Chemie zu studieren. Darauf kaufte er sich eine Menge Sämereien und machte sich an die Arbeit. Vor allem grub er auf seinem Landgut alle Maulbeerbäume aus, die in jener Gegend den Hauptertrag liefern, und fing an, damit die Öfen zu heizen. Darauf legte er mehrere tiefe Gruben an, die mit Steinen ausgelegt und zur Erzeugung künstlichen Düngers benutzt wurden; die Obstbäume pflanzte er buchstäblich einen auf den andern, und zwischen diesen Bäumen wurde gesät. Alles dies wurde reichlich mit „vervollkommnetem“ Dünger begossen; das Resultat war, daß alles verbrannte; sogar das Gras streikte, indem es aufhörte, auf dem unglücklichen Boden zu wachsen. Dieser Versuch, der Bakunin nicht billig zu stehen kam, nahm ein ganzes Jahr in Anspruch.

Im August 1875 fand Malatesta, der Bakunin in Lugano aufsuchte, den alten Kämpen „im Zustand der Auflösung“. Die jungen Revolutionäre erkannten in dem jetzigen Bakunin den alten Lehrer nicht wieder, der sie noch vor kurzer Zeit zu kriegerischen Taten begeistert hatte. Dessenungeachtet machte Bakunin immer noch einen starken Eindruck auf Leute, die mit ihm zusammenkamen, wie zum Beispiel auf Krawtschinsky, der auf dem Wege nach der Herzegowina ihn besuchte, um den Oberpriester der Anarchie kennen zu lernen, ebenso auch die junge russische Revolutionärin Weber, die später unter dem Pseudonym A. Bauler interessante Erinnerungen an ihn verfaßt hat. Um Bakunin hatte sich ein kleiner Kreis italienischer Arbeiter gruppiert, die mit Ehrerbietung zu dem alten müden Kämpfer hinaufsahen und ihm jede Art Dienst zu erweisen suchten; seine Seele erwärmte sich an dem Feuer, das er einst selbst in ihnen entzündet hatte.

Die materielle Lage Bakunins war schrecklich; er schlug sich durch, indem er hier und da ein paar Franken pumpte, die er dann seiner Frau zur Führung der Wirtschaft übergab. Im Februar 1876 versammelten sich die Kreditoren Bakunins zu einer Beratung und beschlossen, ihm drei Monate Frist zur Bezahlung der Schulden zu geben. Endlich im März gelang es Frau Losowskaja, den Wald zu verkaufen, den Bakunins Brüder ihm als den ihm zukommenden Teil an der Erbschaft überlassen hatten, und am 25. März erhielt er aus Warschau die ersten tausend Rubel. Doch bald stellte es sich heraus, daß die Hoffnungen Bakunins auf Besserung seiner materiellen Lage zum letztenmal aufs grausamste vernichtet werden sollten: Frau Losowskaja brachte als Erlös nur 7000 Rubel mit. Dies Geld reihte nicht aus, um alle Schulden zu bezahlen; im Familienrat wurde beschlossen, die Villa den Gläubigern zu überlassen und Lugano zu verlassen. Bakunin sprach die Absicht aus, nach Neapel überzusiedeln. So mußte er im Greisenalter noch einmal den Wanderstab in die Hand nehmen und einem unbestimmten Schicksal entgegengehen.

Doch da seine Krankheit ihm unsagbare Schmerzen zu verursachen begann, entschloß er sich, zu seinem Freund Adolf Vogt nach Bern zu reisen und sich dort zu kurieren. Am 3. Juni verließ Bakunin Lugano, und zu gleicher Zeit reiste seine Frau nach Rom ab. Auf dem Berner Bahnhof erwartete ihn Vogt. Bakunin äußerte zu ihm: „Ich bin nach Bern gekommen, damit du mich entweder wieder auf die Beine stellst oder mir die Augen zudrückst.” Vogt brachte ihn sofort in die „Mattenhofer Klinik, wo Herr und Frau Reichel ihn aufzusuchen sich beeilten. Zu Frau Reichel sagte Bakunin auf Russisch: „Mascha, ich bin hierhergekommen, um zu sterben.“ Bakunin litt an einer Lähmung der Harnröhre, chronischer Nierenentzündung und Hypertrophie des Herzens, welche durch Wassersucht kompliziert war.

Einmal bat er, man möge ihm Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ bringen. Im Gespräch mit Reichel über dieses Buch meinte er, unsere ganze Philosophie gehe von einem falschen Grundgedanken aus, indem sie von Anfang an den Menschen als Individuum und nicht als Teil der Kollektivität auffasse: hieraus erkläre sich die Mehrzahl der philosophischen Irrtümer, die entweder zu der Seligkeit im Himmel oder zum Pessimismus im Sinne von Schopenhauer oder Hartmann führten.

In dieser Zeit war sein Geist noch ganz klar. Am Mittwoch, den 21. Juni war er noch ziemlich bei Bewußtsein. Auf das von Reichel geäußerte Bedauern, daß Bakunin nicht dazu gekommen, seine Memoiren zu verfassen, antwortete dieser: „Sag doch, bitte, für wen ich sie hätte schreiben sollen? Es lohnt sich nicht, darüber zu sprechen. Jetzt haben alle Völker ihren revolutionären Instinkt verloren. Alle sind sie viel zu sehr mit ihrer Lage zufrieden, und die Angst, das zu verlieren, was sie haben, macht sie zahm und träge. Nein, wenn ich gesund werde, werde ich vielleicht eine Ethik schreiben, aufgebaut auf den Grundlagen des Kollektivismus, ohne philosophische und religiöse Phrasen.“

Am Donnerstag, den 22. Juni fand ihn Reichel auf dem Diwan liegend, und auf die Frage, wie er sich fühle, antwortete er: „Mir ist dumm im Kopf.“ Bakunin war in eine Art Erstarrung gefallen. Am Mittwoch, den 28. Juni überzeugte sich Vogt davon, daß Bakunins Krankheit unheilbar sei; an diesem Tage hörten der Stuhlgang und die Harnabscheidung auf. Zugleich verstärkte sich die Schläfrigkeit, und der Appetit verlor sich gänzlich. Von nun an verließ Bakunin das Bett nicht mehr und sank immer mehr in Lethargie. Als Reichel ihn bat, ein wenig Bouillon zu trinken, antwortete Bakunin, ohne die Augen zu öffnen: „Ich habe nichts mehr nötig, ich habe mein Liedchen ausgesungen.“ Am Sonnabend, den 1. Juli besuchte ihn Reichel. Vier Minuten vor 12 Uhr hauchte er seinen Geist aus.

„Ich kann nichts anderes sagen,“ schreibt Reichel, „als dies: Bakunin starb, wie er lebte, als ganzer Mensch. Im Laufe seines ganzen Lebens trat er als das auf, was er war, ohne Phrasen und Verstellung, und er starb ebenso mit vollem Bewußtsein seiner selbst und seiner Lage. Im allgemeinen schien er mir vom Leben ermüdet. Er hat sich ein richtiges Urteil von der gegenwärtigen Welt gebildet, und da er einsah, daß es ihm für die ihm eigene Tätigkeit an Material fehle, schloß er ohne Bedauern seine Augen. Es ist sogar möglich, daß er den Tod wünschte, obgleich ihm niemals Worte entschlüpft sind, die auf ein solches Verlangen hinwiesen.“

Wir wissen, daß der Gedanke an den Tod als den Befreier von allen Leiden, sowohl persönlichen als gesellschaftlichen Charakters, in den letzten Jahren Bakunin mehr als einmal gekommen war. Und wer weiß, vor welchen neuen Qualen dieser Tod den vom Leben so hart mitgenommenen, in seinen gesellschaftlichen wie intimen Hoffnungen so bitter enttäuschten Mann bewahrt hat!

Am 8. Juli begleiteten die von allen Seiten der Schweiz zusammengekommenen Sozialisten Michael Bakunin zur letzten Ruhestätte. An seinem Grabe hielten Schwitzguebel, Schukowsky, James Guillaume, Elisée Reclus, Carlo Salvioni, Paul Brousse und endlich der Berner Arbeiter Betsin Reden. Guillaume konnte vor Schluchzen nicht zu Ende reden. Unter denen, die der Leiche das Geleit gaben, befanden sich auch Russen, besonders Studentinnen. Nach dem Begräbnis fand eine Versammlung in dem Lokal des sozialdemokratischen Vereins statt. Hier wurde von. allen ohne Unterschied der Nationalität der Wunsch ausgesprochen, daß über dem Grabe Michael Bakunins alle Streitigkeiten rein persönlichen Charakters verstummen möchten und daß auf dem Boden der Freiheit die Vereinigung aller sozialistischen Fraktionen der Alten und Neuen Welt zustande kommen möge.

Einige sozialdemokratische Zeitungen, wie zum Beispiel der Lissaboner „Protesto“, druckten sympathiebezeugende Artikel über Bakunin ab. Sogar einige bürgerliche Zeitungen sprachen bei der Todesnachricht ihr Mitgefühl aus. Leider verstanden es einige Organe, wie zum Beispiel die Züricher „Tagwacht“, nicht, in diesem Moment sich völlig vom Parteihader zu befreien und eine richtige objektive Würdigung dieser großen historischen Figur zu geben.

Der Wunsch, daß über dem Grabe Bakunins die alten Streitigkeiten verstummen möchten, ging daher, wenigstens in diesem Moment, nicht vollständig in Erfüllung. Allzu gegenwärtig war noch die Erinnerung an den Zwiespalt in der Internationalen Arbeiterassoziation. Und Bakunin selbst, eine Kampfesnatur, war nicht zu falscher Sentimentalität geneigt; seine Persönlichkeit konnte daher eine idyllische Stimmung nicht gut aufkommen lassen. Um so mehr, als mit seinem Tode der Kampf zwischen den zwei Strömungen des sozialrevolutionären Gedankens nicht aufhörte. Freilich dauerte die von seinen Anhängern gegründete anarchistische Internationale nicht lange fort, und die Mehrzahl der sie bildenden Elemente schloß sich der internationalen Sozialdemokratie an. Dennoch blieben genug Anarchisten übrig, welche es verstanden, besonders in den romanischen Ländern neue Kräfte um sich zu sammeln und einen bedeutenden, wenn nicht den größten Teil ihrer Energie auf den Kampf gegen die sozialdemokratischen Arbeiterparteien verwendeten. Von Bakunistischem Geiste ist zum großen Teil der sogenannte „revolutionäre Syndikalismus“ durchsetzt, wie es Guillaume25 nicht genug unterstreichen kann.

Dieser heftige Kampf zwischen Anarchisten und Sozialisten ist ohne Zweifel einer der Hauptfaktoren, welche die Feindschaft, sei es auch nur eine rein theoretische, gegen Bakunin nähren und einer mit notwendiger Objektivität vorgenommenen richtigen historischen Einschätzung der Bedeutung seiner revolutionären Tätigkeit hinderlich sind. Jetzt ist, wie es scheint, die Zeit gekommen, dieser ungewöhnlichen historischen Figur Genugtuung widerfahren zu lassen und anzuerkennen, daß ihre Fehler bei weitem durch ihre Vorzüge überwogen wurden, und daß in der allgemeinen Ökonomie der. internationalen proletarischen Bewegung die negativen Resultate der Bakuninschen Tätigkeit von den positiven zum Verschwinden gebracht werden. Und niemand ist so sehr zur Ausübung dieser Pflicht der historischen Gerechtigkeit berufen als die russische Sozialdemokratie einerseits, welche unter ihre Väter nicht nur Marx, sondern in gewissem Sinne auch Bakunin rechnet, und die deutsche Sozialdemokratie andererseits, welche einst seinem Andenken die schwersten Wunden geschlagen hat und die jetzt stark genug ist, historische Gerechtigkeit walten zu lassen.

Michelet schrieb einmal, der Teilnahme Bakunins, dieses Zöglings der deutschen Philosophie, an den Kämpfen der deutschen Revolutionäre auf den Barrikaden Dresdens sich erinnernd, folgendes: „Wenn Deutschland Deutschland werden wird, wird man diesem Russen dort einen Altar errichten.“ Das Proletariat errichtet keine Altäre, aber ein dankbares Andenken im Herzen der Arbeiterklasse hat Bakunin zweifellos verdient.